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Bürger-Rezeption
 

Bürger-Rezeption Volltexte 1916-1949

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1916

Humboldt, Wilhelm von. den 8. Oktober, Tagebuch der Reise nach dem Reich 1788. In: Wilhelm von Humboldts Tagebücher, Berlin

“[S. 49] Bürgers Musenalmanache lagen da [bei Forster]. Therese [Heyne] las uns vor: darf ich noch ein Wörtchen lallen. 1) Sie liest nicht schlecht, aber auch nicht sehr gut, bei weitem nicht wie Brendel und Jette. Die ganze Idee des Gedichts gefiel ihr nicht. Und sie hat Recht. Er wird geliebt, und klagt nie, und nennt sich unglüklich, bloss weil ihm der physische Genuss nicht auch gewährt wird. Wer kann damit sympathisiren? Ueberhaupt fehlt es wohl Bürger sehr an Delikatesse. Man sieht seinen Gedichten an, dass er nie mit Delikatesse liebte.

1)Bürgers ´Elegie, als Molly sich losreissen wollte´, zuerst erschienen im Göttinger Musenalmanach 1786 S. 199.”

 

1916

Berliner Börsen-Zeitung, Morgen-Ausgabe 7.5.1916


"Der Kritiker (Paul Schlenther).
Die schlimmsten Kritiker waren immer Mitschaffende. Das bewies schon Aristophanes gegen die attische Tragödie, das bewies Nestroy gegen Hebbel und Wagner. Kleist wurde durch nichts so ties getroffen, wie durch die kalte Ablehnung Goethes. Wenn heute ein Kritiker über einen lyrischen Dichter so schreibt, wie Schiller über Bürger, so gilt dieser Kritiker als roher Patron. Immer wollte die Reizbarkeit des Beurteilten den Bekennermut des Urteilenden beugen. Immer nahmen die Beurteilten es den Urteilenden übel, daß ihre Worte nichts taugen. Das wird auch immer so bleiben. Denn es ist ein natürlicher Kampf ums Dasein der Kunst und Künstler. Auch die Formen, in denen dieser Kampf tobt, waren immer so ziemlich die gleichen."

 

1916

Anzeige. In: Unterhaltungsblatt des Vorwärts 28.1.

1916 Unterhaltungsblatt des Vorwärts 28 01

1916

Anzeige. In: Wochenblatt für Reichenbrand Siegmar Neustadt Rabenstein und Rottluff 15.4.

1916 Wochenblatt für Reichenbrand Siegmar Neustadt Rabenstein u

1917

Loose. Emilie. Hebbels Anschauungen über die ältere deutsche Literatur. Dissertation Heidelberg.

“[S. 25] Auch Bürger hat dem ganz jungen Hebbel bedeutenden Eindruck gemacht. Die ´Lenore´ las er in einer Nacht mit einem ´Urgefühl´ : ´Wonne, Wehmuth, Leben, Tod, Alles auf einmal)´. Kritische Äusserungen aus dieser frühen Zeit sind nicht vorhanden; doch bereits 1840 deutet Hebbel an, dass seine Verehrung sich nicht auf alle Bürgerschen Gedichte erstreckt. Ja, nachdem er ´recht glücklich´ war, sich am 24. März 1842 zwei Bände Bürger zu kaufen, kommt er über Bürgers Gesamtleistung am 28. März zu folgendem absprechenden Urteil: ´Bürgers Gedichte machen doch, wenn man die ganze Sammlung durchlies't, einen äusserst beschränkten, dumpfen Eindruck. Ausser: Lenore; das Lied von der Treue; und einigen wenigen anderen Stücken wird sich Nichts halten...´ Zu den ´wenigen anderen´ Bürgerschen Gedichten. die Hebbel gelten lässt, gehören wohl vor allem die ´Nachtfeier der Venus´ und ´Das hohe Lied von der Einzigen´, die er als Muster des Wohlklangs hinstellt, und ´Des Pfarrers Tochter von Taubenhain´, das ´trotz der Peinlichkeit uud selbst Trivialität der Composition, wenn man sie als Ganzes betrachtet, Schilderungen enthält, die die deutsche Litteratur in solcher Vollendung und Süssigkeit nur einmal besitzt´. Am höchsten aber steht Bürger in Hebbels Schätzung nach wie vor als Dichter der ´Lenore´, als den er ihn sogar mit Goethe zusammen als ´die anerkannt ersten Meister der lyrischen Poesie´ bezeichnet. - Endlich führt Hebbel Bürger in historisch bedeutsamem Zusammenhange auf; ist er es doch, der auf dem von Luther geschaffenen und von Klopstock besaiteten Instrument der Sprache die ersten Töne vor Goethe anschlug! Doch eine dauernde Wirkung hat Bürger ebensowenlg erlangt wie Hölty; beide sind 1859 nicht mehr im Bewusstsein des Volkes lebendig. - Über Bürgers Charakter fällt Hebbel in der Rezension der Schiller-Körnerschen Korrespondenz folgendes Urteil: ´Bürger, durch Schillers allerdings harte Kritik verletzt, benimmt sich würdelos und bestätigt dadurch wider seinen Willen den schärfsten Ausspruch dieser Kritik, dass er sich als Individuum nicht genügend cultivirt habe.´"

 

1917

Vorwärts 11.10.1917


"Der Reichsanwalt stellt nicht den Antrag, die Immunität dieser Abgeordneten aufzuheben und die drei Beschuldigten den Matrosen gegenüberzustellen? Die Matrosen werden erschossen, und nachdem sie aus dem Leben ausgelöscht sind, nicht mehr Zeugnis ablegen können, wird — nicht etwa in einem Gerichtszimmer, sondern, in einem gerade geeignet scheinenden Augenblick, im Reichstage — ihre Aussage plötzlich hervorgeholt?
Das ist das Echo des Inlandes. Und das des Auslandes, das wir in wenigen Tagen erwarten dürfen?
Graut Liebchen auch vor Toten?"

 

1917

Berliner Tageblatt und Handels-Zeitung, Morgen-Ausgabe 21.03.1917


"Mundgerechtes Weißbrot.
Hin ist hin, verloren ist verloren: muß der Berliner leider sagen, wenn er der Schrippen gedenkt, die sich bei ihm so großer Beliebtheit erfreuten."

 

1917

Anzeige. In: Dresdner neueste Nachrichten 30.9.

1917 Dresdner neueste Nachrichten 30 9

1918

Martens, Herbert. Die Schöpfung der Kunstballade. In: Deutsche Rundschau 

 “[S.252] Die Schöpfung der Kunstballade ist ein Tempel auf dem Wege zur Ballade Goethes. Sie hat dem größeren Geiste die Weihe und den Schlüssel zu ihrem Geheimnis gegeben. War Bürger auch kein Universalgenie im Goetheschen Sinne, aus bloßen genialen Einfällen ist sein Meisterwerk nicht zu erklären. Die Zauberkraft des Schöpfers hatte auch ihn ergriffen. Daß sie sich mit der “Lenore” erschöpfte, lag einzig und allein an seiner engeren Natur.
Nur in diesem Sinne können Schuld und Schicksal, Erschütterung und Verbitterung aus Bürgers Erdenirren gerecht beurteilt werden. Es bleibt eine schwere Verirrung, auf lyrische Naturen, wie Bürger und Liliencron, Goethes Urteil über Günther anzuwenden: ihr Leben und Dichten sei zerronnen, weil sie sich nicht zu zähmen wußten. Ihr Leben läßt sich nimmer als das von Verirrten, Haltlosen, von Trinkern und Verbuhlten begreifen. Ihr Dichten erscheint uns heute vielmehr als ein getreuer Spiegel der Zeit und ihrer Schicksale. Ihr unglückliches Leben, in einer unvollkommenen, einseiztigen Natur begründet, konnte sich unmöglich auf den Höhen Goethischen Geistes bewegen; die Unglücklichen rangen Zeit ihres Lebens nach frischer Luft aus der grauen, engen Alltagskümmernis, nach Befreiung von drückenden Geldsorgen, nach den goldenen Wolkensäumen, die nach einem Sturmtage den Abend verklären.

[S.256] Wir können Schillers idealisch gestimmter Gesinnung, seinem aufgeklärten sittlichen Bewußtsein unsere Bewunderung nicht versagen und müssen seiner herben Kritik insoweit recht geben, als sie die Unerbittlichkeit seines für Menschenpflicht und Menschenwürde besonders empfindliche Zeitalter darstellt. Aber dem Lyriker in Bürger konnte sie nicht die volle Gerechtigkeit widerfahren lassen und mutet uns heute als vorurteilsvoll, als im gewissen Sinne beschränkt an. Ohne Zweifel war Bürger von den beiden der Lyriker; seine lyrische Ursprünglichkeit kam schon in der “Lenore” zum Durchbruch. Dies fühlte auch Goethe, und es ist nicht unbekannt geblieben, daß er wiederholt Bürgers lyrische Begabung vor der Schillerschen Kritik in Schutz nahm.
Aber nicht allein dem Lyriker, auch dem Deutschen in Bürger hätte Schiller größeres Verständnis entgegenbringen können. Hier versagte das Augenmaß des griechisch-römisch gebildeten Weltbürgers. Prüfen wir heute das Lebenswerk Schillers und dasjenige Bürgers von deutschnationaler Warte, so ist es verwunderlich, wie wenige deutsche Stoffe dem ersteren zugrunde liegen, während Bürgers ganzes Sinnen und Denken in der engeren Heimat aufging. Seine Liebe zur Scholle ward nie der Gefahr der Verbildung ausgesetzt; Alles Fremdländische blieb ihm in glücklicher Beschränkung seiner Natur unverständlich, wie sehr er sich auch in Homer und Ariost vertiefte. Die Übertragungen des Göttinger Studenten aus dem Homer sind ungriechisch empfunden; seine homerischen Helden muten uns wie Berserker und Mannen aus germanischer Vorzeit an. Ihm fehlte die Begabung, sich in den Geist der fremden Völker einzuleben; die Assimilationsfähigkeit, eine zweischneidige deutsche Charaktereigenschaft, scheint ihm im Gegensatz zu Schiller nicht angeboren gewesen zu sein. Sein Stil atmet heimischen Erdgeruch und verleugnet nirgends seine niedersächsische Herkunft. In der Zeit der weltbürgerlichen Aufgeklärtheit der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts gewiß eine seltene Erscheinung. [...] Betrachten wir Bürgers Lebenswerk von dieser Seite, so gewinnt der Dichter eine bisher nicht genügend gewertete Bedeutung im Rahmen der vaterländischen Literatur.Was Bürger instinktiv sein Leben lang suchte, was jeder Dichter sucht, edles Rohmaterial, das sein ewig gehemmtes Ich in Fluß bringt, fand er bei der ihm eigentümlichen Enge des seßhaften niedersächsischen Menschen verhältnismäßig sehr selten. Ein vollendetes Prosaerzeignis seiner Bodenständigkeit besitzen wir aber in seiner meisterhaften Bearbeitung und Ergänzung der Raspeschen Münchhausiaden. Der “Münchhausen” war ein solcher Rohstoff, der seinem Herzen lag: voll blühender Phantasie, kernig bis zur Derbheit, durchgoren von echtem germanischen Humor und volkstümlichen Tiefsinn.

[S.258] Das Hadern mit Gott und die Sühne durch den Tod [Lenore] sind ungleich deutsch empfunden. Ein Stück Rebell gegen Gott, Tod und Teufel hat immer im Deutschen gesteckt.Es ist bezeichnend, daß gerade Bürgers erstes und letztes Dichtwerk großen Stiles dasselbe persönliche Gesicht tragen. Seine dichterische Bestimmung lag zweifelsohne in der Formwerdung germanischen Geistes.”

Martens Die Schöpfung der Kunstballade in der ONLINE-BIBLIOTHEK

 

1918

Scherer, Wilhelm. Die Stürmer und Dränger. In: Von Goethe und seinen Trabanten.

“[S. 230] Rasende Eile im wildesten Ritt, edle Tat in steigender Gefahr, heimliche Lust bei lauerndem Leid, alle solche Gegenstände, die auf ängstliche Spannung berechnet sind, Konflikte der Liebe und des Standes, Treue, Untreue, Verrat, wüsten Egoismus der Hochgeborenen und verzweifeltes Aufbäumen der Niederen, wußte er mit großer Virtuosität zu vergegenwärtigen, aber auch Schwänke wie ´Frau Schnips´ oder ´Kaiser und Abt´ lebendig zu erzählen. In seinen Liebesliedern suchte er vielfach nach Szene und Handlung; aber für die zarte Welt des Herzens fehlte ihm reiche Erfindung, und den Mangel an poetischen Motiven suchte er durch äußeren Schmuck, hohe Worte und leeren Klingklang zu ersetzen, welcher letztere auch manche Strophe seiner besten Balladen entstellt. Maßlose Leidenschaft verdarb ihm sein Leben; und die strenge Form, in die er überquellende Empfindung zuweilen kleidete, die melodischen Sonette, die glatten, gefeilten Verse konnten ihr den innern Adel nicht schaffen.”

 

1918

Anzeige. In: Hamburger Fremdenblatt 7.3.

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1918

Anzeige. In: Deutsches Volksblatt 20.11.

1918 Deutsches Volksblatt 20 11

1918

Anzeige. In: Fremden-Blatt 12.11.

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1918

Anzeige. In: Wiener Allgemeine Zeitung 19.11.

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1918

Anzeige. In: Wiener Montags-Journal 18.11.

1918 Wiener Montags-Journal 18 11

1918

Ströver, Ida C. Alte Geschichten. In: Die goldene Pforte, Berlin 1918

“Röschen hätte gern mit Monkedam musiziert, aber ihre Violine nicht mitgebracht. Ich war aus Gründen, die begreiflich sind, froh darüber.- Aber auch auf einem anderen Gebiete betätigte sie sich: es war die Vortragskunst. Ich, die an das unvollkommene Sprechen einer Taubstummen gewöhnt war, empfand die schönen Strophen, welche Röschen mit biegsamer Stimme aus dem Gedächtnis zum besten gab, wie Musik. Szenen aus den großen Klassikern, Balladen von Schiller und Bürger trug sie vor, daß es einen kalt am Schopfe faßte. Besonders die ‘Leonore’ liebte ich: es war der Gipfel aller mystischen Genüsse.
Vater hatte mich auf den Knien und streichelte mahnend mein heißes Gesicht. ‘Kind, rege dich nicht so auf!’ Dann, zu den anderen gewandt, meinte er: ‘Nun, es ist kein Wunder. Meinem Großvater ist es auch nicht besser ergangen, er war es, dem Bürger das Gedicht im Wirtshaus zu Reinhausen bei Göttingen zuerst vorlas.’ Alle horchten gespannt auf. "Wissen Sie noch Näheres?" fragte Röschen. Vater nickte: ‘Bürger war von Appenrode herübergeritten gekommen und hatte das Manuskript bei sich. 'Oppermann' - das war meiner Mutter Vater und damals Schulze im Orte -, 'Oppermann, wollen Sie mal was Neues hören?' rief der Eintretende, damit zog er die Schreiberei heraus und fing an.
Großvater standen die Haare zu Berge bei der wahnsinnigen Schilderung. Er hat es meinem Vater oft erzählt, wie Bürger ihn so närrisch damit vergrault hatte, daß es ihm durch und durch ging, als er mit seiner Leonore nun an das Kirchhofstor kam und Bürger im Affekt seine Reitpeitsche zog und sie auf den Tisch niedersausen ließ, daß Großvater und die anderen Zuhörer von den Sitzen auffuhren."-
Vater zog an seiner Zigarre und blies große Wolken von sich: ‘Muß ja ein toller Kerl gewesen sein! Na, so ganz recht sind die Gedichteschreiber ja alle nicht. Sich sein Lebtag mit Spintisieren abgeben: da kommt nichts Reeles bei heraus. Und dem Bürger seine Frauensleute, die haben ja auch was erlebt: soll 'ne verrückte Liebeswirtschaft geführt haben mit der Molly und ihrer Schwester.’
Tante Berta, die den Abend mit uns verbrachte, lachte. ‘Freilich, Bernhard! Alle Leute sind keine Tugendbolde, es muß auch unnütze Gewächse geben! Aber unterhaltsam müssen sie dann doch wenigstens sein; dann sei ihnen vieles verziehen. Die größte Sünde für die Schriftsteller ist die Langeweile! Da stehlen sie ihren Mitmenschen mehr als Geld und geben ihnen für die verlorenen kostbaren Stunden nichts wieder. - Ja, die alten Zeiten!’”

 

1919

Wittner, Otto. Bürger. In: Deutsche Literaturgeschichte vom westfälischen Frieden bis zum Ausbruch des Weltkrieges. Erster Band. Dresden

“[S. 128] Bürger, der sich aus der Trübnis seiner äußeren und inneren Zustände nie zur Klarheit durchrang, hat auch in seinem Werke den vollen Kranz nicht erreicht, der ihm zu blühen schien.

[S. 129] All das mag seinen Bildungsgang gehemmt haben; er hat den nationalen Erfolg seiner ´Leonore´, die er als Fünfundzwanzigjähriger dichtete, nie wieder erreicht, geschweige denn übertroffen. Seine eigentliche Lyrik, die zu seiner Zeit ebenso geschätzt wurde wie die Balladen, ist in ihrem Wesen schon durch die des jungen Goethe überholt. Sie ist in Stimmung und Gedanken mit jener bereits überwundenen Schäferdichtung und Tändelei identisch, die sie gewissermaßen in höchster Vollendung repräsentiert. Einiges davon hat sich deshalb, als Typus der Gattung, erhalten. [...] So gestaltet er mit Vorliebe volksliedhafte Motive, die Lust am Liebchen, Liebeszauber und Sinnesänderung, und er spinnt volkstümliche Vorstellungen ein, von Perlen, Myrten und Rosmarin, wie wir es später bei den Romantikern und ihren Nachfahren finden. Ein gewisser musikalischer Reiz, beruhend auf einer in den besten Momenten virtuosen Sprachbeherrschung - Bürger hat, wie kaum ein zweiter, unermüdlich an seinen Gedichten gefeilt, Ausdruck gegen Ausdruck, Vokal gegen Vokal abgewogen - ist dieser Lyrik eigen, und so hat Bürger denn zur Ausbildung unserer poetischen Sprache auch das Seinige beigetragen.

[S. 130] In ´des Pfarrers Tochter von Taubenhain´ hat Bürger das für die Generation typische Thema von der Kindesmörderin als Ballade bearbeitet. Und so hat jedes von den wenigen Stücken, die Bürger hier geschaffen - genannt seien noch das allzutugendhafte ´Lied vom braven Mann´ und die trefflich vorgetragene Schnurre vom Kaiser und vom Abt - weit in unserer Literatur nachgewirkt. Bürger hat geradezu einen Kanon der deutschen Ballade geschaffen, und gedankenarme Nachahmer konnten nach ihm die edle Kunst fast handwerksmäßig betreiben. Der Dichter selbst besaß leider nicht den sicheren Kunstgeschmack, der ihn allein dauernd auf der erreichten Höhe halten konnte: so hat nur ein kleiner Teil seines Lebenswerkes jene künstlerische Weihe erhalten, die unvergänglich macht. Schillers ablehnende Rezension, die Bürger die letzten Lebenstage verbitterte, erscheint uns freilich als allzuherbe, gerade weil wir die Zeitbedingtheit des Bürgerschen Werkes besser erkennen als er.“

 

1919

Heyse, Paul. Heyse an Keller, München, 12. Oktober 1881. In: Paul Heyse und Gottfried Keller im Briefwechsel. Hamburg, Braunschweig und Berlin

“[S. 242] Dies sauere Nichtstun, zu dem ich so gar kein Talent habe, versüße ich mir einigermaßen, indem ich mir jeden Morgen mein Dänenroß satteln lasse, will sagen einen dänischen Ollendorf zur Hand nehme, der mich bereits so sattelfest gemacht hat, daß ich nur noch hie und da über eine Vokabel stolpere.“

 

1919

Anzeige. In: Hamburger Echo 11.10.

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1919

Anzeige. In: Dresdner neueste Nachrichten 30.11.

1919 Dresdner neueste Nachrichten 30 11

1920

Bernt, Alois. Der Göttinger Dichterkreis.  In: Deutsche Literaturgeschichte für das deutsche Haus und zum Selbstunterricht. Reichenberg

“[S. 89] So ragt der sanfte Hölty, der Sänger wehmütiger Liebes- und Frühlingslieder, hervor, den ein früher Tod (1776) hinwegraffte; und Gottfried August Bürgert (1747-1794), in Molmerswende bei Halberstadt geboren, seit 1772 Amtmann in Altengleichen bei Göttingen, eine kurze Zeit auch
Professor in Göttingen, den eine unglückliche Veranlagung durch die Leidenschaften des Lebens trieb und der so sein reiches Talent nicht zur Entfaltung brachte; er ist frühzeitig gestorben. Ihm verdankt die deutsche Literatur die Erweckung der Volksballade zu literarisch ernsthafter Behandlung in seiner berühmten ´Lenore´; ´Der wilde Jäger´ und ´Das Lied vom braven Mann´ führen bereits zu den Romanzendichtungen Schillers und Uhlands hinüber. Überhaupt lag in vielen Erzeugnissen der Hainbündler ein Zug zum Romantischen, die Erneuerung des ritterlichen Mittelalters dämmerte bei ihnen und den süddeutschen Stürmern und Drängern auf.“

 

1920

Linden, Ilse. Literarische Visionen. Essays. Berlin. (Sammlung Klaus Damert)

“[S. 17] Der tragische Tanz dieses Lebens wirbelt auf engem Raum. Das Wäldergrauen des südlichen Harzes von Wolmerswende bis Göttingen ist Bürgers geographisches Weltbild.
  Wie ein Kreisel wird er in dieser schmalen Ecke angedreht und gepeitscht bis zum letzten Hintaumeln.
  Schwindel ergreift den Betrachter dieser Gestalt. Der Sinn dieses rasenden Ablaufs? Ein Mensch wird zu seiner eigenen Einheit gezwungen! Erst durch die Peitsche erfüllt sich die Kreisel-Berufung.
  Bürger wäre nicht Bürger ohne sein knappes, gejagtes, frech tanzendes Schicksal.

  Was ist ein Bänkelsänger? Ein Meistersinger, der auf einem Bänkel steht, um weithin vom Volk gehört zu werden.
  Zeitlebens sehnt sich Bürger -ohne es zu wissen - nach dem Bänkel. ´Popularität´ nennt er das Ziel seiner Dichtung. Gesungen will er seine Lieder wissen - oder doch sehr laut gesprochen. Homer beschäftigt seine Seele, weil hier eine übermenschliche Stimme laut und frisch durch die Jahrhunderte hin die Völker ansingt.
  Das Laute, Wirkliche, Unmittelbare ist Bürgers Leidenschaft. Zugleich weiß er die Magie gespenstischer Stimmungen. Das englische Reliquienbuch von Percy bringt ihm entscheidende Offenbarung. Hier entdeckt er für sich und für Deutschland - in einer Zeit anakreontischer Spielereien! - den natürlichen, volksnahen Ton seiner Balladen. ´Lenore wird ´immer jene erschüttern, die Melos in der Dichtkunst suchen.
  Dieser Genie-Wurf hebt Bürger plötzlich in Goethes Nähe. ´Götz´ und ´Leonore´ sind Wein aus demselben Jahrgang.
  Bürger ist Stürmer und Dränger: trotz seiner Göttinger Hainbund-Freunde. Aber es ist nicht der elegante Sturm und Drang der Straßburger Studenten Goethe und Lenz. Dieser leichte Geselle trägt Kleider aus grellrotem Samt mit silbernen Tressen - natürlich unbezahlt. Er will - wie die Stürmer und Dränger - Originalität auf allen Wegen. Aber er hat einen derberen, triebhafteren Geschmack. Er ist und bleibt heimlicher Fürst aller Bänkelsänger.

   Was ist eine Moritat? Moralisierendes Klage- und Schauerlied von Liebes- und Geldnot; von Ehebruch, Sühne und Tod. Dem Bourgeois gewidmet. - Bürgers Leben ist eine klassische Moritat. Den großen Vagantenzug seiner Natur zerbricht er selber durch moralische Konzessionen und wehleidige Klagen. Er läßt sich in Ehen und Ämter fangen. Täglicher Rausch und täglicher Kampf in dreiteiliger Ehe mit den zärtlichen Schwestern Dorette und Molly. Aber er stöhnt dabei wie ein wirklicher Bürger.
 Das Schwabenmädchen Elise Hahn enthüllt sich - in seiner dritten Ehe - als unzüchtiges Geschöpf. Die Scheidung geschieht. Sein Moralitätsgefühl erträgt Abwege bei Frauen nicht. Darin ist sich der Göttinger Student, der Gerichtshalter von Gelliehausen, der Landwirt von Appenrode und der Literaturprofessor gleich.
  Sinnlichkeit ist Bürgers Ur-Recht. Sie ersetzt ihm Weltabenteuer. Schafft die inbrünstigen Molly-Lieder; die dunkelirrende Pfarrerstochter von Taubenhayn. Sie ist der vagantennaheste Zug dieser seltsamen Gestalt.

   Es ist das Tempo seines Geschickes, das ihn von seiner Vulgarität erlöst. Die schnelle Kreiseldrehung. Drei Ehen und vier Berufe - zusammengepreßt in eine sechsundvierzigjährige Lebensspanne. Diese Verdichtung hebt Bürgers Gestalt. Sie gibt ihr Rhythmus. Schafft ihr Rundung. Und schenkt ihr endlich künstlerische Einheit. “

 

1920

Bouwman, B. E., Verdenius, Th. A. Göttinger Dichter. In: Deutsche Literaturgeschichte nebst Lesebuch für höhere Lehranstalten. Groningen, Haag

“[S. 49] Das Organ dieser Göttinger Vaterlands- und Tugendschwärmer war der Göttinger Musenalmanach, ihre Abgötter waren Klopstock und Ossian und ihre bevorzugten poetischen Gattungen Lied und Ballade.
   Die bedeutendsten dieser Dichter sind Bürger und Voß, ersterer besonders bekannt durch mehrere volkstümliche Balladen, letzterer durch eine vorzügliche Übersetzung von Homers Iliade (1792) und Odyssee (1781).
   Voß´ Idyllen, die gleichfalls in Hexameter gedichtet waren, begeisterten Goethe zu seinem Hermann und Dorothea. “

 

1920

Rackl, Josef und Ebner, Eduard. Sturm und Drang; Hainbund. In: Deutsche Literatur-Geschichte für höhere Schulen und zum Selbstunterricht. Nürnberg

“[S. 115] Gottfried August Bürger (aus Molmerswende bei Halberstadt 1747-1794) wurde durch sittliche Haltlosigkeit gehindert sein Bestes zu leisten. Er starb verlassen, arm und voll Reue über sein verfehltes Leben. Seinen Dichterruhm begründete die Ballade ´Lenore´, mit der er 1773 die Ballade (von altenglischen Mustern angeregt) in die deutsche Literatur einführte. Der düstere Stoff (dem der Volksglaube zugrunde liegt, daß der tote Bräutigam in mondheller Nacht seine Braut abhole und ins Grab hinabziehe) ist in erschütternder Weise fast dramatisch gestaltet und äußerst geschickt an die Zeitverhältnisse angepaßt: der Bräutigam Lenorens ist ein im Siebenjährigen Kriege bei Prag gefallener Krieger. Manch andere Balladen, wie das bekannte ´Lied vom braven Mann´, ´Die wilde Jagd´ und der derbkomische Schwank ´Der Kaiser und der Abt´, sowie eine Reihe glänzend geschriebener Sonette legen Zeugnis ab von Bürgers bedeutender dichterischer Begabung. “

 

1920

Storck, Karl. Bürger und der Göttinger Dichterbund.  In: Deutsche Literaturgeschichte, Stuttgart.

“[S. 238] Bürger ist der erste, der dichterisch erreichte, was Herder kritisch verlangte: echte, aus vollem Herzen und heißer Empfindung quellender Lyrik. Aus Percys Sammlung ´altenglischer Balladen und Lieder´ hatte er das Wesen echter Volksdichtung erkannt. Das Leben sorgte dafür, daß die Leidenschaft seiner Gedichte der wahre Ausdruck seines Empfindens wurde. So hat Bürger als erster wirklich volkstümliche Lieder geschrieben. Da war echte Melodie, leidenschaftliches Gefühl, Klarheit, Wahrheit und Bestimmtheit der Bilder, lebendige Mundsprache, nicht tote Schriftsprache. Allerdings liefen auch Roheiten und Geschmacklosigkeiten mit unter, aber man vergaß sie, ja man sah sie als echte Naturlaute an. Die besten dieser Lieder sind heute noch lebendig, z. B. ´das Feldjägerlied´, ´das Dörfchen´ u. a. - Weit höher noch ist Bürgers Bedeutung als Schöpfer der Ballade.

[S. 239] Dieselbe innere Einheitlichkeit in Stoff, Stimmung und Form [wie der Lenore] hat Bürger auch in den besten seiner anderen Balladen erreicht. (´Das Lied vom braven Mann´, ´der Kaiser und der Abt´, ´die Kuh´, ´der wilde Jäger´.) Später verfällt er wieder in den Bänkelsängerton und streift oft ans Gemeine. Daß er auch in schwierigen Kunstformen Wirkungen zu erzielen vermochte, bewiesen die ´Sonette´. die selbst Schiller Muster ihrer Art nannte, deren Sprache sich auf des Deklamators Lippen in Gesang verwandle.“

 

1921

Biese, Alfred. Bürger. In: Deutsche Literaturgeschichte Erster Band, München.  (Sammlung Klaus Damert)

“[S. 540] Nach Mollys Tod geriet Bürger auch in Unterhaltssorgen und fiel in frühere studentische Ausgelassenheiten zurück,die sein Leben und damit sein Dichten rasch vernichteten. Dabei wurde er zum Unglück sich seines eigentlichen Berufes nicht klar. Er, der volkstümliche bodenständige Dichter, voll sinnlicher Leidenschaft und urwüchsiger Triebe, ließ sich von der Zeitströmung verleiten, dem ´Idealen´ nachzustreben, das ihm durchaus fern lag. Bürger schrieb Sonette; es ist schon dies beinahe eine Ungeheuerlichkeit. Und wenn die Sonette nicht schlecht sind, so ist das nur ein Zeichen, daß Bürger auch wider seine Natur etwas leisten konnte. In Wirklichkeit aber zerrieb er sich durch sein Schwanken zwischen seiner Anlage, die voll höchster künstlerischer Naivität war, und seinen Absichten, die kritisch-skeptisch die eigentliche Anlage verleugneten. In einer rein naiven Zeit hätte Bürger ein großer Volksdichter werden können. Die Dichtungen, die sich, wie die Balladen, in der Richtung seiner Anlage bewegen, sind ihm sicher am besten gelungen.

[S. 542] Selten hat ein einzelnes Gedicht einen solchen Sturm der Begeisterung hervorgerufen wie die ´Lenore´. Sie flog im Nu durch Deutschland und verbreitete Bürgers Ruhm gleichmäßig bei Gebildeten und im Volke, bei hoch und niedrig. Und noch heute ist Bürger neben Goethe, Schiller und Heine einer der volkstümlichsten deutschen Dichter. Außer der ´Lenore´sind ´Der wilde Jäger´, ´Das Lied vom braven Mann´, ´Des Pfarrers Tochter von Taubenhain´ und der lustige Schwank ´Der Kaiser und der Abt´ allen Deutschen so bekannt, daß man diese dramatischen, in einem sicheren Guß geformten Gedichte nur zu nenen braucht, und jeder wird sich des Eindrucks erinnern, den sie einst in seiner Jugend auf ihn machten. Man hat das Gefühl, es fehle nur noch wenig und es wäre Bürger gelungen, wenigstens in der Ballade, dieser Vorstufe des Dramas, seinem geliebten Shakespeare Gleichwertiges zu schaffen. Aber Bürgers schwankendes Wesen ließ seine Persönlichstes nicht ausreifen.

[S. 543] Aber auch diese Gedichte [wie Liebe ohne Heimat] verdanken mehr dem tragischen Schicksal, das sie festhalten, als Bürgers eigentlichem Können ihren Wert. Schiller hoffte, durch eine kraftvolle Kritik den Haltlosen zurechtzubringen, aber dazu war es schon zu spät, und dann war Schiller gerade am wenigsten geeignet, Bürger zu würdigen. Er glaubte, ihn zu dem ´Idealen und Hohen´ hinüberziehen zu müssen, während doch alles darauf angekommen wäre, ihn fest auf das Reale, das Volkstümliche, dem seine eigene Natur zuneigte, zu stellen. So wurde die Kritik Schillers sowohl durch ihre erbarmungslose Härte wie durch ihre falschen Forderungen Bürger gänzlich zum Verderben. “

Der vollständige Beitrag in der ONLINE-BIBLIOTHEK

 

1921

Berger, Karl. Über Bürgers Gedichte. In: Schiller. Sein Leben und seine Werke. München. (Sammlung Klaus Damert)

“[S. 56] Diese Rezension erregte großes Aufsehen und heißen literarischen Streit. Bürger wollte anfangs an die Verfasserschaft Schillers durchaus nicht glauben, weil die Kritik ihrem Sinne nach auch manche von dessen eigenen Jugendgedichten mit vernichtendem Urteile traf. Sollte so ein Vater gegen seine eigenen Kinder wüten, ein Mann so ganz seine Vergangenheit verleugnen? Daran konnte Bürger nicht glauben, und doch lief Schillers Vorgehen in letzter Linie auf eine strenge Selbstkritik hinaus: in Bürger, dem Vorbilde seiner derbnatürlichen Jugendpoesie, stieß er den eigenen alten Menschen von sich, verdammte er seine frühere Art und Kunst, über die sein machtvoll vorwärtsstrebender Geist sich längst erhoben hatte. Um seine neuen hohen Ziele zu beleuchten, stellte er ohne Zögern auch sich selbst ins Dunkel. War er ungerecht, so war er es so gut gegen sich wie gegen den andern. Solche unerbittliche Strenge mußte freilich dem Befehdeten, der Selbstzucht zu üben nicht gelernt hatte, unbegreiflich erscheinen. [...] Aber gerade weil der Wohllaut seiner Verse, die Gewalt und Glut seiner Sprache, die Bildkraft seiner Phantasie, die ganze, reiche Fülle dichterischer Begabung diesem Lyriker den Anspruch auf ´die höchste Krone´der Vollendung und Anerkennung geben, glaubt Schiller sich berechtigt, im Namen der Kunst zu untersuchen, warum dieses ´große Dichtergenie´ den höchsten Forderungen so viel schuldig geblieben sei. [...] jedes Dichters ´erstes und wichtigstes Geschäft´sei, ´seine Individualität so sehr als möglich zu veredeln, zur reinsten, herrlichsten Menschheit hinaufzuläutern´.

[S. 58] Die Rezension spricht große, unbestreitbare Wahrheiten aus, und Schiller hielt später am Wesentlichen seines Urteils fest, wenn er auch das ´Raisonnement´, die Beweise, preisgab; er sah seinen kritischen Irrtum darin, daß er allgemeine Sätze, das Ideal, zu unmittelbar auf einen besonderen Fall angewendet habe. Aber schon der in der Rezension von ihm eingeführte Begriff der Idealisierung ist durch einen moralischen Zusatz getrübt und deshalb zum ästhetischen Wertmesser nicht recht geeignet. Idealisieren ist dem Kritiker hier noch so viel wie veredeln - eine Gleichsetzung, die er nach tieferem Eindringen in das Wesen des Ästhetischen ausdrücklich verworfen hat zugunsten einer rein künstlerischen, nicht entfernt an moralisches Verbessern erinnerden Auffassung. Etwas idealisieren heißt dem gereiften Ästhetiker Schiller, wie wir sehen werden, weiter nichts, als einen Gegenstand ´aller seiner zufälligen Bestimmungen entkleiden und ihm den Charakter innerer Notwendigkeit beilegen´. So lesen wir unterm 10. März 1795 in seinen Bemerkungen zu Körners Aufsatz ´Über Charakterdarstellung in der Musik´: ´Das Wort veredeln erinnert immer an verbessern, an eine moralische Erhebung. - Der Teufel, idealisiert, müßte moralische schlimmer werden, als er es ohne das wäre.´
    Aber auch abgesehen von solchen Irrungen des Verfahrens konnte der nach großer Kunst strebende Dramatiker der im Ursprünglichen und Leidenschaftlichen wurzelnden Kraft dieses Lyrikers nicht ganz gerecht werden. Hier stand Schiller eine Natur gegenüber, die von der seinigen völlig verschieden war. Das von ihm aufgestellte Ideal der Volkstümlichkeit ist das Leitbild seiner eigenen Lebensarbeit, aber es kann nicht uneingeschränkt gelten für einen Volksdichter von Bürgers Art, dem die Berührung mit bestimmten Volkskreisen und mit dem Kern des Volkstums selbst eine unversiegliche Quelle von Kraft und Poesie erschließt. So mußte Schillers Kritik, gerade weil sie im wesentlichen und allgemeinen recht hatte, doch im besonderen allzu schroff und, wo sie gar kein Verständnis aufbrachte, geradezu parteiisch und lieblos erscheinen. Dieser Eindruck wurde durch zufällige Umstände verschärft: da die herbe Verurteilung den unglücklichen Dichter im Niedergange seines von Schuld und Schicksal, Not und Gram zerrütteten Lebens traf, wirkten die harten Stellen zerschmetternd. [...] Spätere Ausfälle Bürgers blieben unerwidert; ihre Derbheit konnte Schiller in seinem Urteil über die ethischen Mängel des Gegners nur bestärken.
   So schritt Schiller in reicher, fruchtbarer Arbeit, befriedigt von seinem häuslichen Glück, hohen Strebens voll, dem Ende des Hochzeitsjahres entgegen.“

 

1921

Bippen, Wilhelm von. Das Ende der böhmischen Verfassungswirren. In: Johan Smidt, ein hanseatischer Staatsmann. Stuttgart und Berlin

“[S. 317] Aber Smidt erhielt, wie schon gesagt ist, jene Ermächtigung. Und so schrieb er am 8. März an Senator Mohr, seinen Korrespondenten, wenn sein Sohn Heinrich nicht in Bremen war, ´als ich am Sonntag aufstand. und nicht nötig fand, mir auf einen Zettel zu notieren, welche Besuche ich im Laufe des Tages zu machen und was ich dabei zu äußern oder zu befürworten nicht zu vergessen hätte, fühlte ich mich so federleicht, wie es im Laufe der heute beendigten drei Jahre, während welcher dieser Revolutionsalpdruck auf uns lag, niemals der Fall war. Mir war zu Sinne, als sollte ich gleich jenem Ritter in der Ballade ausrufen:
  Knapp sattle mir mein Dänenroß, daß ich mir Ruh erreite,
  Es wird mir hier zu eng im Schloß, ich will und muß un Weite.
oder als sollte ich den Meinigen mit Maria Stuart zurufen:
  Laß mich der jungen Freiheit froh genießen,
  Laß mich ein Kind sein, sei es mit! “

 

1921

Fränzel, Walter. Gefühl und Leidenschaft. In: Deutschland im Jahrhundert Friedrichs des Großen und des jungen Goethe, Gotha.

“[S. 132] Die von Goethe und Herder 1770 mit fliegender Feder geschriebenen Blätter "von deutscher Art und Kunst" enthalten einen Hymnus auf das Straßburger Münster und einen auf Shakespeare. Und in Verwundrung versetzte: Shakespeare wie die Gotik hatten ohne Gelehrsamkeit, ohne sich an berühmte Muster zu halten, gedichtet, gebaut, die von Gott geschaffene Welt, wie Gott, noch einmal geschaffen, aus einem inneren Urtrieb heraus geschaffen wie die Natur. Das schien das Höchste! So wollte man selber dichten, so wollte man leben. Der Tod reißt das Mädchen zu sich auf den Sattel und rast mit ihr durch Nacht und Wind in sausendem Galopp vorbei an Leichenstein und Hochgericht, "daß Roß und Reiter schnoben und Kies und Funken stoben ". Man lese Bürgers Lenore und Wilden Jäger! Zum Teufel mit allen Regeln und sogenanntem feinen Benehmen! Fort mit aller feigen Rücksicht auf Tradition, Anstand und Sitte.”

 

1922

Hellinghaus, Otto. Bürgers Leben und Werke. In: Bibliothek deutscher Klassiker. Dritter Band.

 „[S. 330] Während sein Freund, der Dichter Göckingk, durch strenge Selbstbeherrschung sich vor einer ähnlichen sittlichen Verwilderung bewahrte, versank Bürgers sinnliche, weder durch Religion noch durch Vernunft gezügelte Natur in den tiefsten Sumpf sittlicher Verkommenheit. In leidenschaftlichen Liedern stammelte er Molly den Wahnsinn seiner Liebe vor, bis das Feuer auch in ihrem Herzen auflohte und über beide zusammenschlug.

[S. 333] In den lyrischen Gedichten ist der Volkston zuweilen gut getroffen. In manchen aber wird kindisch-künstliche Spielerei mit volkstümlicher Naivität verwechselt; andere suchen das Volkstümliche sogar im Gewöhnlichen, Gemeinen. Viele Lieder haben die Liebe Mollys zum Gegenstand; aber die sündhafte Liebe ist eine „Krankheit, schwer und unheilbar“, und wollten wir das Unsittliche daran vergessen, der Dichter läßt es nicht zu, indem er, wie Schiller bemerkt, sein Liebesverhältnis zu individuell faßt. Nur die von uns aufgenommenen Molly-Gedichte bieten reinen Genuß. Durch sein stetig zunehmendes Streben nach Formschönheit wurde Bürger auch zu der lange vergessenen Kunstform des Sonetts geführt, bei dem er  indes meistens nicht iambische, sondern trochäische Verse gebraucht; Inhalt und Form decken sich in harmonischer Weise, so daß man ihn mit Recht den ersten deutschen Sonettendichter von Bedeutung nennen kann. Einzelne seiner Sonette verdienen als wahre Perlen bezeichnet zu werden.

[S. 372] Am nächsten verwandt unter allen Dichtern des Sturmes und Dranges ist Bürger mit Schubart; bei ungleich größerer Begabung und bei unvergleichlich ausgebildeterem Formsinn teilt Bürger mit dem schwäbischen Lyriker das Urwüchsige, Packende einer derb-sinnlichen Natur.

[S. 373] Dem kühn Ausschreitenden haben sich die Pforten reiner Klassizität niemals erschlossen. Er blieb im Vorhofe des Tempels der Volkspoesie stehen: durch seine Romanzen und Balladen aber hat er bahnbrechend der deutschen Poesie ein Gebiet erobert, auf welchem ihr seitdem viele ihrer besten und unvergänglichen Produkte erwuchsen.“

Hellinghausens Bürgers Leben in der ONLINE-BIBLIOTHEK.

 

1922

Gundolf, Friedrich. Käthchen von Heilbronn. In: Heinrich von Kleist.

“[S. 113] In der Seele des beschwörenden Dichters müssen mindestens die Naturschauer noch lebendig sein aus denen die Wunderzeichen stammen, und selbst dann dürfen sie nicht willkürlich und isoliert untergebracht werden, wenn sie uns ergreifen sollen, sondern sie müssen (wie im Faust) aus dem mythischen oder magischen Grund des ganzen Werks steigen.
   Einen solchen hat das Ritter-stück Kleists gar nicht - es ist ein seltsames Gemisch aus Maschinerie und Vision. Das was Kleist daran wirklich rührte und anging ist nur die in Käthchens einzelner Figur wirksame, dämonisch besessene nachtwandlerische Hingabe: das konnte er aus eigenem Drang nähren und über jede Alltagswahrscheinlichkeit hinaus glaubhaft machen. Es war aber ein viel zu isoliertes Motiv, um damit ein Drama zu füllen - ein Balladen-motiv, wie es denn auch in einer alten englischen BaIlade, und nach dieser von Bürger knapp und frisch behandelt war.”

 

1922

Anzeige. In: Frankenberger Tageblatt 15.4.

1922 Frankenberger Tageblatt 15 04

1923

Einem, Charlotte von. Jugenderinnerungen. In: Aus dem Nachlaß Charlotte von Einems, Hrg. Julius Steinberger

“[S.139] Bürger kam nun auch nach Münden [1774], da er der Justizamtmann auf dem Gute Gleichen bey Göttingen, geworden war, welches unserm Obristen von Uslar gehörte. Wir lernten ihn kennen und er kam noch ein paar mal herüber, öfter aber sah ich ihn nochmals bey Dietrich. Er war ein äuserst hypochondrischer launenhafter Mensch. Immer exaltiert vom ausgelaßnen zum düstern und melancholischen übergehend. Als wir ihn kennen lernten, war er Bräutigam der Ersten Frau. Auguste - die berühmte und - leider so unglückliche - war noch ein Kind und später erst erblühte dise schöne Blume Wunderhold welche der furchtbar reißende Strom des unlautern Quells mit sich fort - Ach! in den Abgrund riß. Sie ist beweinenswerth, denn sie war ganz der Engel! - Sie ist gern und sanft im Arm der frommen treuen Dietrich entschlafen - die schöne Rose hatte ja im Aufblühn der giftige Hauch wollüstiger Begier verlezt und umstrickt. - Ach die reine arglose ahndete ja das nicht. Aber wie konte ein Sinn und Gemüth gereinigt werden wie das von B: welches Jahrelang im Pfuhl des Lasters untergetaucht war. Es konnte nicht - wenn es auch zu streben schien. Ich habe B. nach allen diesen Vorgängen im Jahre 1786 in Erfurt zuletzt wieder gesehn.”

 

1923

Ernst, Otto. Semper der Mann. Leipzig.

“[S. 325] Oder sie sang ´Des Pfarrers Tochter von Taubenhain´, ein Lied, das man in ihrer Kindheit auf Jahrmärkten zur Drehorgel und zu Mordgeschichtsbildern gesungen hatte und in dem Asmussen als kleinem Knaben bei der Stelle:
 ´Es schleicht ein Flämmchen am Unkenteich,
 Das flimmert und flammert so traurig.
 Da ist ein Plätzchen, da wächst kein Gras;
 Das wird von Tau und von Regen nicht naß;
 Da wehen die Lüftchen so schaurig´-
immer ein Schauder über den Rücken gelaufen war. So blätterte sie, wenn sie singend hin- und hertrippelte, das Buch seiner Kindheit vor ihm auf, das im großen und ganzen ein Liederbuch gewesen war. “

 

1923

Raabe, Wilhelm. Das Odfeld. In: Sämtliche Werke, Dritte Serie, Band 4, Berlin-Grunewald. Digitalisiert von Google

“[S. 8] Es schlug zwei schwarze Brummer mit einem Klapp. ´Wozu brauche ich noch einen Abt zu Amelungsborn, wenn ich schon einen Generalsuperintendenten zu Holzminden sitzen habe?´ fragte es, - und:
  ´Dich will ich belehnen mit Ring und mit Stabe,
  Dein Vorfahr besteige den Esel und trabe´,
summte es noch vor Gottfried August Bürger, und Herr Hermannus Topp rückte als der erste Generalsuperindendent in Holzminden und Abt von Amelungsborn auf die Prälatenbank der Lande Braunschweig-Wolfenbüttel.”

 

1923

Krauss, Friedrich S. Die Anmut des Frauenleibes. Berlin - Wien - Leipzig.

“[S. 104] Wirkliche Anmut ist von der Schönheit unzertrennlich; denn mit der verkümmernden Oberhaut schwindet auch die Schönheit unrettbar dahin, wie dies Bürger in seiner biederben Manier richtig ausdrückt:
   Bei des stillen Reizes Mangel
   zieht kein schönes Angesicht;
   Denn der Bissen an der Angel
   lockt wohl, aber fängt doch nicht.

[S. 173] Meine schöne Leserin lächelt vielleicht und ein leiser Anflug von Langeweile huscht über ihr liebliches Antlitz wie ein verdüsternder Schatten dahin und sie denkt sich dasselbe, was der Dichter so hübsch zu sagen weiss:
   Was ihr mit allem Verstand nicht erwerbt,
   Das hab ich von meiner Frau Mutter ererbt!

[S. 278] Wie die hinreissend bezaubernde Farbenpracht der aufflammenden Morgenröte, so erscheint dem Liebenden herrlich schön die Wange der Geliebten. So stimmt Bürger Helenens Lob und Preis an:
   Ihr Blick verheisst ein Paradies;
   Die Wang ist Morgenröte;
   Und ihre Stimme tönt so süss,
   Wie König Friedrichs Flöte.

[S. 296] Günther, der verdiente Wiederentdecker Firenzuolas fügt hinzu: ´Die Frauen mögen es vermeiden hochmütig dreinzuschauen. Aber, wie viele Frauen versündigen sich nicht gegen diese Vorschrift und bewirken dadurch, dass ihr sonst geweiss gefälliges Antlitz dauernd eine häßliche Verzerrung aufweist.´ Der Rat nützt nichts und ist auch an die falsche Adresse gerichtet, denn nur wir Männer verderben die Frauen, sowie die reichen und mächtigen Mannsbilder. Bürger erkannte das Übel und gab einen Rat, der freilich auch für die Katze ist:
   Viel Klagen hör' ich oft erheben
   Vom Hochmut, den der Grosse übt.
   Der Grossen Hochmut wird sich geben,
   Wenn unsre Kriecherei sich gibt.
Jedenfalls erleidet Schönheit Einbusse unter Hochmut, der stets gegen eigene Fehler blind macht und einen Wall gegen wahre Liebe und Freundschaft bildet.

[S. 414] Der wirklich ästhetisch veredelte Sinn des Kulturmenschen entbehrt gern aller und jeder durch Schnitte, Narben und Ringe erzielten Verschönerungen der Frauenbrüste. Für ihn sind die Worte in Haydens Jahreszeiten eine Devise:
   Aussen blank und innen rein
   Muss des Mädchens Busen sein.”

 

1923

Anzeige. In: Sächsische Staatszeitung 17.4.

 1923 Sächsische Staatszeitung 17 04

1923

Anzeige. In: Dresdner neueste Nachrichten 24.4.

1923 Dresdner neueste Nachrichten 24 04

1923

Anzeige. In: Sächsische Volkszeitung 4.5.

1923 Sächsische Volkszeitung 04 05

1923

Anzeige. In: Die freie Meinung, Breslau 03.03.

1923 Die freie Meinung Breslau 03.03.

1923

Anzeige. In: Breslauer Nachtpost 2. Jahrgang Nr. 10

1923 Breslauer Nachtpost 2. Jahrgang Nr. 10

      Schlesisches
      Manege-Schaustück
      die
      Grabesbraut
      nach Holtei.






 

1924

Badischer Beobachter 28.09.1924


"Es fiel ein Reif.
Dann lachte sie kurz und hart. Was sollte das? Voran, gearbeitet! Das Träumen und Sinnieren mußte abgetan bleiben. Hin ist hin, verloren ist verloren!"

 

1924

Fridericus. In: Sächsische Volkszeitung 11.5.

1924 Sächsische Volkszeitung 11 05

1925

Witkop, Philip. Bürger. In: Die deutschen Lyriker von Luther bis Nietzsche. Erster Band. Von Luther bis Hölderlin, Dritte veränderte Auflage.

“[S. 149] Wie der Maler ein Bildnis schafft, indem er sein Modell in hundert Stellungen und Stimmungen seinem Auge, seinen Skizzen einprägt, und dann aus diesen Hundert Eine schafft, die alle anderen in sich schließt, so konnten wir bei allen früheren Lyrikern aus der Mannigfaltigkeit ihrer Werke und ihres Lebens Ein Bild gewinnen, das all ihr Leben und Dichten, ihr inneres und äußeres Schicksal in sich versammelt hatte, uns als notwendige Einheit zeigte. Bei Bürger ist es kaum möglich, diesen Einen Punkt zu finden. Unruhig wogen alle Elemente in ihm durcheinander.

[S. 150] Schon auf der Universität zeigt sich die ganze Unausgeglichenheit und Verworrenheit von Bürgers Wesen. Wie alle Naturen, die nicht einheitlich in sich selber bestimmt sind, ist er äußeren Einflüssen überaus zugänglich. In Halle ist es Geheimrat Klotz, der berüchtigte, gewissenlose Streber und Blender, unter dessen Einfluß er gerät, von dem er fünf Jahre nicht loskommt.

[S. 151] Es besteht ein tiefer Zusammenhang zwischen unseren äußeren Schicksalen und unserem inneren Wesen. Unbewußt zieht das Innere aus der unendlichen Fülle der Außenwelt immer die ihm verwandten Menschen, Zustände und Schicksale an sich. Und es ist, als ob die Verworrenheit von Bürgers Innerem notwendig die Verworrenheit seiner äußeren Schicksale aufgesucht hätte. Der absolvierte Jurist übernimmt die Stellung eines Amtmanns in Altengleichen, die in all ihren Bedingungen voll grenzenloser Unordnung ist.

[S. 153] Fast zu gleicher Zeit erscheint die vernichtende Rezension Schillers über Bürgers Gedichte, über mehr: über seine Persönlichkeit. Mensch und Dichter sind tödlich getroffen. Vergebens sucht Bürger seinen Gedichten den völlig unverstandenen Schillerschen Begriff der Idealität nachträglich einzupfropfen.

[S. 154] Das Leben gab ihm die große, ungewöhnliche Leidenschaft. Und was kann das Leben wohl einem Dichter Besseres gehen! In ihr konnte er seine dunkelsten Tiefen erfahren, seine letzten Kräfte befreien. Einer Welt zum Trotz hätte er sie bejubeln und bejahen können, sich selbst zum Trotz hätte er sie in reiner Entsagung, in heiligem Leid verneinen können. Kampf und Sieg hätten ihn und seine Kunst geläutert und gehoben. Er aber war kleiner als sein Schicksal, er wußte mit diesem Göttergeschenk nichts zu beginnen. Zwischen Wollen und Sollen taumelt er hin und her, weiß weder das Sollen zum Wollen, noch das Wollen zum Sollen zu machen.

[S. 156] Bürger wagte seine Leidenschaft weder bewußt noch unbewußt unter dieser tiefsten künstlerischen Art und Aufgabe zu bejahen. Ab und zu findet er wohl eine Stunde, wo ihn die kindlich-reine Gläubigkeit des Künstlers an das Leben seinen Zwiespalt
vergessen macht. Dann entstehen jene frischen, einfachen Lieder, die vom Volkslied belebt die heimliche Gewalt und Liebenswürdigkeit Bürgers ahnen lassen. Lieder wie ´TrauteI´, ´Das Mädel, das ich meine´, ´Mollys Wert´ gehören zu den lebendigsten Anfängen der deutschen Lyrik. Aber sobald Bürger sich den Tiefen seines Lebens zuwendet, sobald er künstlerisch einer Leidenschaft Herr zu werden sucht, der er menschlich nicht Herr geworden, versagt er völlig.

[S. 157] Nie ist in der deutschen Lyrik eine so verzehrende Leidenschaft so ohnmächtig im Ausdruck ihrer selbst gewesen. Wie sie in sich uneinheitlich und unsicher blieb, so bleibt sie auch in ihrer Darstellung. Nirgend weiß sich das Leben einheitlich und unmittelbar auszusprechen. Statt seine Gefühle auszusprechen, spricht der Dichter über seine Gefühle. Statt zu schreien oder zu verstummen, erklärt er uns: ´Schreien, aus muß ich ihn schreien ...´ oder ´Ich erstarre, ich verstumme´. Statt das dunkel wühlende Feuer seiner Leidenschaft mit der jähen Gewalt und Notwendigkeit eines vulkanischen Ausbruchs hinauszuschleudern, monologisiert er immer wieder darüber, wie ungeheuer doch die Gluten in ihm seien, und wie schwer es sei, sie zu befreien: [...].

[S. 159] Es ist begreiflich, daß ein Lyriker von der Lebensfülle Bürgers, dem aber die unmittelbare lyrische Einheit in Leben und Lyrik versagt war, frühzeitig nach anderen Ausdrucksformen umschaute, um sein Innenleben zu befreien. Immer wieder hat er sich mit dem Gedanken an große Epen und Dramen getragen. Aber dazu fehlte es seiner lyrischen Art an Gegenständlichkeit und Menschenkenntnis. Eine andere Form, eine Zwischenform drängte sich ihm auf und gab ihm die Möglichkeit, seine inneren Unruhen dichterisch auszulösen: die Romanze, die episch-lyrische Ballade.

[S. 162] Die ganzen genialen Anlagen Bürgers, die sich so selten zusammenschlossen, die unbändige Fülle seines inneren Lebens haben in der Lenore Gestalt gewonnen. In der gesamten deutschen Literatur gibt es kein zweites Gedicht von solcher Gewalt der Bewegung. Mit der ersten Zeile setzt die Bewegung ein und wird nicht müde und weiß sich durch 256 Zeilen ununterbrochen zu steigern, immer wilder und gewaltiger bis zum Geheul und Kettentanz der Geister. Die ganze deutsche Sprache ist in Aufruhr gebracht, alle Ausdrücke innerer und äußerer Bewegung wirbeln hier zusammen, wir sehen, hören, fühlen ihre sausende Gewalt. Die Strophen haben keine Zeit, sich immer neuer Wendungen zu besinnen, in atemlosen Wiederholungen
jagen sie vorwärts. Nie ist der Refrain zu einem so leidenschaftlichen Mittel geworden.

[S. 163] In den Erschütterungen dieses Prozesses gewann ein Plan Gestalt, den er schon lange in sich trug: Die Kindesmörderin: ´Des Pfarrers Tochter von Taubenhain.´ Die ganzen tragischen Verwicklungen seiner Leidenschaft, Schuld, Schande und Reue nahmen in diesem Prozeß drohendes Leben an, machten ihn zu einem persönlichen Schicksal. Das eigene düstere Innenleben wurde durch ihn in die Wirklichkeit hinausgestellt und der dichterischen Darstellung vergegenständlicht. Die Verführungsszene, Weizenfeld und Wachtelgesang, Gartenduft und Nachtigall sind mit der gleichen, lebendigen Deutlichkeit gezeichnet wie Verrat, Verzweiflung und Mord. Die letzte Strophe weiß das Unheimliche, Grausige mit unnennbarem Menschenweh zu vereinen und zu verinnerlichen.”

Witkops Bürger in der ONLINE-BIBLIOTHEK

 

1925

Biehler, Otto. Bürgers Lyrik im Lichte der Schillerschen Kritik.

“[S.261] Viel mehr als der blonde Eleve der Karlsschule wurzelt Bürger als echter Sohn seiner ländlich niedersächsischen Heimat im Volk und in der Natur. Für Schiller war die Karlsschule ein strenger sittlicher und ästhetischer Zuchtmeister. An den klassischen Vorbildern der Griechen, Lateiner und Franzosen hat sich sein Geschmack veredelt und geläutert, während Bürger, einen geordneten Schulunterricht entbehrend, als Knabe es liebte, geheime Zwiesprache mit den dunkeln, gespensterhaften Gestalten verwitterter Burgtrümmer zu halten, gruseligen, balladenhaften Geschichten oder schwärmerischen Kirchenliedern, die starken Eindruck auf ihn machten, zu lauschen.

[S.262] Die von Schiller selbst kaum ganz in seinen höchsten dichterischen Leistungen erfüllte Forderung, daß die Dichtkunst die Sitten, den Charakter, die ganze Weisheit ihrer Zeit geläutert und veredelt in ihrem Spiegel sammeln soll, scheint mehr an dem transzendentalen Schillerschen Idealismus als an der Wirklichkeit, als an der Geschichte der Dichtkunst orientiert zu sein.”

Bürgers Lyrik von Otto Biehler in der ONLINE-Bibliothek.

 

1925

Ermatinger, Emil. Lyriker des Sturms und Drangs. In: Die deutsche Lyrik seit Herder. Erster Band.

“[S. 42] In seiner berühmten Rezension der zweiten Auflage von Bürgers Gedichten von 1789 (In der Jenaischen Allgemeinen Literaturzeitung) hat Schiller Bürger vor den höchsten Richterstuhl geladen und verurteilt. Was für ein spannendes, zugleich erhebendes und bedrückendes Schauspiel! Nicht nur zwei Persönlichkeiten, zwei Weltanschauungen, zwei Zeiten stehen sich gegenüber! Dem zwölf Jahre jüngeren Richter drückt nicht Anmaßung oder Zufall den Stab in die Hand, sondern das sittliche Recht und die innere Nötigung der Persönlichkeit, die in schonungslosen Kämpfen das eigene Ich zur klaren Größe klassischer Ausgeglichenheit emporzutragen strebte. Darnach formt er den Maßstab seines Urteils. Der Dichter soll der Inbegriff der ganzen sittlich-ästhetischen Bildung der Zeit sein, sein Werk ein Spiegel, der sie, geläutert und veredelt, in sich sammelt und mit idealisierender Kunst zum Muster erhebt. Bloßes Talent kann den Mangel an sittlicher Reife nicht ersetzen. Der Mangel, den Schiller daher an dem älteren Dichter findet, ist das ausgebrannte Stück seines eigenen Selbst: Bürger gebricht die geistige Klarheit, die sittliche Reife der geschlossenen Persönlichkeit, seinem Werke die künstlerische Größe und Harmonie.

[S. 44] In dem Gedichte ´Das vergnügte Leben´ hat Bürger eine Art Lebensideal besungen. Der Geist muß denken. Das Herz muß lieben. Also lustige Gesellschaft, wo man über einen Witz lachen kann, gutes Essen und nachts ein Weibchen. Auch er gehört mit dem Grunde seines Charakters noch zu jenem Geschlechte der Aufklärer, in dem Verstand und Empfindung getrennt nebeneinander hingingen. [...] Keine Frage, eine große und ursprüngliche Kraft arbeitete in ihm. Gedichte wie ´Lenore´ und manche Sonette bringt kein bloßes Talent hervor. Aber diese Kraft wirkte zu sehr als rohe Gewalt. Bürger mochte sich der Natur vergleichen, die aus dem gleichen Schoße die mannigfaltigsten Geschöpfe hervorbringt. Aber bildet ihr unendlicher Reichtum nicht doch eine Kette der reinsten Harmonie? Bürgers Mannigfaltigkeit dagegen ist nicht Reichtum, der einem einzigen Quell entspringt, sondern Zerstreutheit, wahlloses Ausgießen einer nicht in sich geeinigten Person. Wer vermutete, daß der Dichter, der die derbe Bänkelsängerei von der Frau Schnips verfertigte, die wie ein Fischweib alle Himmlischen abkanzelt, Gedichte geschaffen hat, wie das kunstvolle und zugleich von tiefen Gefühl durchglühte Sonett ´An das Herz´?

[S. 45] So betont er denn doch wieder als das Wesentliche des Begriffes Volk ein Gemeinsames, das durch alle Schichten geht: ´In den Begriff des Volkes müssen nur diejenigen Merkmale aufgenommen werden, worin ungefähr alle oder doch die ansehnlichsten Klassen überein kommen.´ Ein Volkslied ist wie ein Normalschuh, der zwar nicht für Riesen und Zwerge, aber doch für den Durchschnittsbürger paßt. ´Die Natur,´ so nimmt er einen Ausspruch aus dem Spectator auf, ´ist dieselbe in allen vernünftigen Geschöpfen (´Human Nature is the same in all reasonable creatures´):
  Es war für Schiller nicht schwer, in seiner Rezension die trübe Dämmerung dieses Denkens mit dem Licht seiner philosophisch geklärten Ästhetik zu durchschneiden. Einen Volksdichter im Sinne Homers oder der Troubadours gebe es heute nicht mehr, erklärt er; denn das heutige Volk sei nicht mehr in Fühlen, Denken und Bildung ungefähr einheitlich; der Abstand zwischen der Auswahl der Nation und der Masse derselben sei heute sehr groß.

[S. 49] Das Märchen, das auch Herder in der Kinderzeit singen gehört hat, ist jedenfalls viel einfacher und kürzer gewesen als die Bürgersche Ballade [Lenore]. Bürger hat es umgewandelt in ein förmliches Prunkstück nach Art von Barock- und Rokokoschränken mit zahlreichen Fächern, mächtigen Ausladungen und mehr phantastischen als geschmackvollen Formen. [...] Oder die Schilderung des Gespensterrittes. Aber auch hier schweift Bürger ins Geschmacklose und Aufdringliche aus.

[S. 50] Wie im Leben, so hat Bürger auch in der Kunst kein Maß gekannt und sich oft so die reine Wirkung seiner großen Begabung selber zerstört. Die Gebärde des Kraftmeiertums - seht, was bin ich für ein Kerl! - bricht auch in der ´Lenore´ durch.”

Der vollständige Beitrag in der ONLINE-BIBLIOTHEK

 

1925

Auer Tageblatt 25.11.1925


"Der Liebeskäfig.
Wenn er den Schatten einer Chance bei dieser kleinen Hexe vor einer halben Stunde etwa noch gehabt — jetzt hatte er's natürlich gründlich mit ihr verdorben. Das sah er.
Na — hin ist hin. Verloren ist verloren, dachte er melancholisch und ging aus der Tür des Versteigerungssaales."

 

1925

Riesaer Tageblatt und Anzeiger 26.06.1925

"Gelöste Ketten.
Nun wird es natürlich wieder an mir sein für Dich zu sorgen, obgleich ich von vorn beginnen muß. Aus Brasilien, wo ich mich eine zeitlang aufhielt, war nichts zu holen und Monte Carlo hat mir den Rest gegeben. Hin ist hin, verloren ist verloren!"

 

1925

Berliner Börsen-Zeitung, Morgenausgabe 11.11.1925


"Zwischenreichsvolk.
Idolatrie ist auch den Größten gegenüber falsch. Sehr oft ist mit gewaltiger Größe auch Unduldsamkeit und Rigorismus verbunden. Und wenn auch Goethes Verhalten gegen den ihm innerlich fremden Kleist nicht als bewußtes Unrecht gedeutet werden kann, so hat es doch für Kleist kaum weniger Unheil bedeutet als Schillers in seinem Rigorismus viel zu weitgehendes Urteil über Bürger. Das muß einmal klar zum Ausdruck gebracht wenden. Denn noch immer spuken derartige Verdikte genialer Persönlichkeiten in Literaturgeschichte und Presse, die im Munde von absolut mittelmäßigen Nachbetern und Schreibern geradezu lächerlich wirken.
Natürlich erschweren derartige Urteile ein endliches Durchdringen der ach so wenigen wirklich vom Urquell der Kunst genährten Menschen, deren Genialität andererseits durch keine Herabwürdigung erstickt werden kann."

 

1926

Salzer, Anselm. Der Göttinger Dichterbund. In: Illustrierte Geschichte der Deutschen Literatur. Zweiter Band, Regensburg (Sammlung Klaus Damert)

“[S. 794] Die ernste Volksballade nun war es, die dem Kunstdichter Bürger vorschwebte, als er gleichzeitig mit Goethe an die Neuschaffung der Ballade und Romanze ging. Schon ´Des armen Suschens Traum´ (1773) gehört einer edleren Gattung an; in demselben Jahre dichtete er Lenore, die in dem Musenalmanach für 1774 erschien und den Weg für eine neue Gattung in unserer Poesie ebnete. Die ´Lenore´ war Bürgers glücklichster Wurf; sie trug seinen Namen durch Europa, sie wurde in Ton und Bild umgesetzt, auf die Bühne gebracht und in fast alle Sprachen übertragen. Nicht weniger als sieben englische Übersetzungen entstanden und nicht unbedeutend war der Einfluß, den sie auf die englische Literatur ausübte. Unter dieser allgemeinen Begeisterung verhallten einzelne Stimmen, die die moralisierende lehrhafte Fassung des Grundmotivs und insbesondere die spielende Überladung der Tonmalerei tadelten, die dem schlichten Naturlaute des Volksliedes widerspreche.

[S. 795] Dagegen sind die Balladen ´Der Ritter und sein Liebchen´, ´Robert´ (1775), ´Schön Suschen´ (1776) jede in ihrer Art vollendet; durch die Unmittelbarkeit der Darstellung reiht sich ´Die Kuh´ (1784) den besten Balladen Bürgers an und überragt das etwas zudringliche ´Lied vom braven Mann´, dessen Pathos sich aus seiner Bestimmung für den Vortrag in der Loge zum Goldenen Zirkel in Göttingen erklärt; und die düstere, durch ihren Inhalt peinlich wirkende Ballade ´Des Pfarrers Tochter von Taubenhain´ (1781) erinnert durch ihren dramatischen Charakter an des Dichters Jugendplan, eine bürgerliche Tragödie zu schreiben. [...]
   Unrecht aber ist es, wenn man bei der Würdigung Bürgers nur seine Balladen ins Auge faßt, denn wie er Treffliches dichtete, bevor er mit dieser Gattung bekannt wurde, so hat er auch neben und nach seiner Beschäftigung mit ihr noch viel Wertvolleres anderer Art teils gegeben, teils vorbereitet. Wie meinen die Lyrik, in der er sein Bestes leistete und durch die er den mächtigsten Einfluß auf die Entwicklung der deutschen Poesie ausübte. Bis auf Goethe alle Lyriker seiner Zeit an Umfang und Stärke des Talents überreagend, wurde er, indem er das Leben wieder in seine poetischen Rechte einsetzte und andererseits nach Schönheit der Form und Ausbildung des musikalischen Elementes der Sprache strebte, das verbindene Mittelglied zwischen den Originalgenies und Wieland und außerdem rettete er der Lyrik im Gegensatz zu den Göttingern, die Klopstocks Art mit ihrer Härte und Strenge wieder aufsuchten, die Anmut und lebendige Fülle. Und Wohllaut des Verses, Tiefe der Empfindung und Schmelz reihen einzelne Lieder Bürgers dem Schönsten an, was deutsche Dichter gesungen haben. “

Der vollständige Beitrag in der ONLINE-BIBLIOTHEK

 

1926

Cysarz, Herbert. Individualität. In: Literaturgeschichte als Geisteswissenschaft. Halle/Saale.

“[S. 82] Nach diesen ersten Untersuchungen des Allgemeincharakters alles individuellen Lebens verweilen wir noch kurz bei dem Komplex Persönlichkeit, als der vollkommensten Organisation der Individualität. Persönlichkeit ist, wie wir wissen, verwesentlichte Individualität; ein Mikrokosmos, in dem sich jedes auf das Ganze und füglich jedes Einzelne auf jedes andere bezieht; echte Unendlichkeit, wo alles Zweckstreben nur Inhalte und Fertigkeiten sammelt. Persönlichkeit ist niemals monstrum in excessum, sondern repräsentatives Menschentum, wesensverschieden von jeder Sonderbegabung: Begabung ist Setzung neuer Ziele und Eröffnung neuer Strukturen; Persönlichkeit ist die Setzung typischer Ziele und die Eröffnung wesentlicher Strukturen. Persönlichkeit ist Führertum an sich, nicht weil sie alle anderen überragt, sondern weil sie das Tiefste und Edelste auch der anderen in Tat und Gebild bannt: Keiner ergibt sich fremdem Eigenwillen, nur dem Vollstrecker eines wenn auch noch so mittelbar gemeinsamen Schicksals. Grosse Männer sind immer Epochenschöpfer und grosse Werke sind menschheitfördernde Werke, bei aller Steile und Einsamkeit; allein die Forderung, das eigene Gesetz zu erfüllen, knüpft Stränge in Vergangenheit und Zukunft.

[S. 84] Goethe endlich erwirbt das höchste Gut der Erdenkinder, im Zeichen der Hellenen. Den Griechen gilt Persönlichkeit als Göttliches, und ihre Götter sind Bilder lautersten Menschentums: Ein künstlerischer Kult des Wesentlichen! Das bleibt der Leitstern auch der Klassik: Persönlichkeit statt nur interessanter Individualität, Norm statt Apartheit und Bizarrerie! In Schillers Bürger-Rezension tritt dieser klassische Persönlichkeitsbegriff am schroffsten gegen seine Widersacher: das Laute, das Plumpe, das Grelle, das Gleissende, das Rührende. Auch Goethes Abwehr des Romantischen als eines Kranken richtet sich gegen die Pflege des Interessanten, Exzentrischen, Phantastischen.“

 

1926

Klee, Gotthold. Der Göttinger Hain und die ihm nahestanden. In: Deutsche Literaturgeschichte. Vierundzwanzigste Auflage. Leipzig 1926 (Sammlung Klaus Damert)

“[S. 124] Nach Volkstümlichkeit strebte der sinnlich leidenschaftliche Gottfried August Bürger. Geb. 31. Dezember 1747 zu Molmerswende bei Ballenstedt, in Halle Schüler von Klotz, 1772-1784 Amtmann in Altengleichen bei Göttingen, seitdem Professor in Göttingen, starb er nach einem verfehlten Leben an Leib und Seele gebrochen 1794, eine an Günther erinnernde Natur. Herders Abhandlung über Ossian und die Lieder alter Völker brachte seine größte Leistung zur Reife, die gewaltige Ballade Leonore (1773), durch die er für Deutschland der Schöpfer dieser Dichtungsgattung wurde. Mit genialer Sicherheit verpflanzte B. hier eine uralte Sage auf den Boden der jüngsten Vergangenheit (nach dem Hubertusburger Frieden). Bekannt sind ferner die Balladen ´Der wilde Jäger´, ´Das Lied vom braven Mann´, ´Des Pfarrers Tochter von Taubenhain´ und die poetische Erzählung ´Die Kuh´. Er schrieb außerdem lyrische Gedichte voll leidenschaftlichen Schwunges (Elegie, als Molly sich losreißen wollte) und herzlicher Innigkeit (Das Mädel, das ich meine; Mollys Wert) und verfaßte (nach der englischen Bearbeitung einer deutschen Quelle) das lustige Volksbuch von Münchhausens wunderbaren Reisen (1786).“

 

1926

Salzer, Anselm. Schillers Studien der Antike. Die Künstler. In: Illustrierte Geschichte der Deutschen Literatur. Zweiter Band, Regensburg. (Sammlung Klaus Damert)

“[S. 906] Mag es auch Schiller nicht gelungen sein, die überquellende Fülle seiner Ideen in eine künstlerisch vollkommene Form zu fassen, so ist das Gedicht [Die Künstler] , das Goethe ´Besonderes´ sagen sollte, doch eines der bedeutsamsten Zeugnisse von Schillers Entwicklung und eines der besten philosophischen Lehrgedichte unserer Literatur.
 In dieser Gesinnung und in dem Bewußtsein hoher Sendung schritt Schiller der Zukunft entgegen. ´Ich muß ganz Künstler sein können oder ich will nicht mehr sein´, schrieb er kurz vor seinem Amtsantritt in Jena an Körner. Nur aus dieser hohen Auffassung vom Künstlerberufe erklärt sich Schillers vernichtende Kritik über Bürgers Gedichte, die im Januar 1791 in der ´Allgemeinen Literaturzeitung´ anonym erschien und einen heißen literarischen Streit erregte. Schiller war im Unrechte; denn seine Lehre von der Idealisierung, wie er sie hier ausspricht, würde die lyrische Dichtung töten und schon gar nicht kann das von dem Kritiker aufgestellte Ideal so uneingeschränkt für einen Volksdichter von Bürgers Art gelten.“

 

1926

Anzeige. In: Ingolstädter Anzeiger 04.02..

1926 Ingolstädter Anzeiger 04.02.

1927

Jantzen, Hermann. Gottfried August Bürger. In: Grundriß der Deutschkunde, Bielefeld und Leipzig. (Sammlung Helmut Scherer)

“[S. 342] Der andere [zu Matthias Claudius] ist Gottfried August Bürger, aus ganz anderem Holze geschnitzt. Ist Claudius das Muster tugendhaft einfachen, fromm christlichen Lebens, so ist der andere das Opfer furchtbarer Leidenschaften, rastloser Unruhe und eines ungefestigten Charakters geworden. Er ist 1747 in der Nähe von Halberstadt geboren, studierte in Halle, ward Amtmann und zuletzt Professor in Göttingen. Er starb 1794, aufgerieben von der unseligen Macht des Alkohols und der Liebe. Und doch war dieser Mann ein großer Dichter, den nur das Schicksal nicht hat ausreifen lassen. Er ist der Erneuerer des deutschen Sonettes, dessen Form er meisterhaft beherrscht und mit frischem Leben erfüllt hat, und er ist der erste, der die volkstümliche Ballade wieder hebt, nachdem sie zum kunstlosen, rohen Bänkelsängerlied herabgesunken war. Ernste und heitere Stoffe wußte er mit gleichem Geschick zu meistern; am gewaltigsten ist seine große Ballade ´Lenore´, die auch die besten von den übrigen, ´Der wilde Jäger´, ´Das Lied vom braven Mann´und ´Der Kaiser und der Abt´, weit überragt. “

 

1927

Röhl, Hans. Sturm und Drang. In: Geschichte der deutschen Dichtung. (Sammlung Klaus Damert)

“[S. 140] Weniger gelingen Gottfried August Bürger seine rein lyrischen Gedichte. Die Reflexion entstellt immer wieder die Leidenschaft des Erlebnisses, an der es ihm wahrhaftig nicht gefehlt hat; aber er braucht fünfunddreißig lange Strophen, um seinen Liebesschmerz (´Elegie´), und gar zweiundvierzig, um sein Liebesglück zu besingen (´Das hohe Lied ´). Gerade Bürger ist im übrigen sorgsam bemüht, recht volkstümlich zu sein, und scheut dabei nie zurück vor dem Gebrauch niederer Ausdrücke und Redewendungen, mit denen er oft genug seine Dichtungen schädigt. Sowie er aus einer englischen Übersetzung die aus Deutschland stammenden, aber hier unbekannt gebliebenen Geschichten von ´Münchhausen´ zurückübersetzt, vermehrt und bearbeitet und damit zum Volksbuch macht, so übernimmt er auch aus der bänkelsängerischen Volksdichtung die bisher der Kunstdichtung fremde Ballade und wird so in gewissem Sinne ihr Begründer. Dabei wählt er gern die Stoffe, die der Sturm und Drang bevorzugt, behandelt so den Kindesmord in seiner Ballade ´ Des Pfarrers Tochter von Taubenhain´. Sein unsterbliches Meisterwerk ist die ´Lenore´. Wie er hier - zur Zeit der Aufklärung, mit zeitgeschichtlichem Hintergrund - Geister und Gespenster beschwört, die Handlung in ängstlicher Spannung steigert, wie hier alles sich in rasender Bewegung befindet, alle unsere Sinne in Anspruch genommen werden, wir das Schreckliche nicht nur sehen und hören, sondern sogar zu fühlen scheinen, und wie durch Wiederholungen der Worte und Klangmalerei die atemlose Hast dieses Todesrittes zum Ausdruck gebracht wird, das ist schlechtweg meisterhaft.”   [red. Anm.: Bürger wird eine reichliche halbe Seite gewidmet, Grillparzer z.B. mehr als fünf Seiten]

 

1927

Walzel, Oskar. Deutsche Dichtung von Gottsched bis zur Gegenwart.

“[S. 219] Bürger freilich fühlt die schrankenlose Sinnlichkeit seiner Erotik auch als Titane. Nirgend wird der Hain so weit von Klopstock abgelenkt wie in Bürgers Liebejubelrufen. Da herrscht nicht seelische Verklärung des geliebten Weibes wie in Goethes Jugendlyrik, mag sie Liebesgefühl noch so unklopstockisch vortragen. Beglückte Sinne jauchzen die Geliebte an. Hamannischer ist das als alle andere Lyrik der siebziger Jahre. [...]
    Schubart ist auf diesem Wege Bürger gefolgt, auch der junge Schiller. Und sogar in Bürgers eigenster Schöpfung wird rednerhaftes Verhimmeln eine ihm gemäßeste Ansdrucksform, in der Ballade. ´Das Lied vom braven Manne´ ist der nächstliegende Beweis. Bürgers Vers ´Gottlob! daß ich singen nnd preisen kann´ verrät, was ihm auch in der Ballade wichtig war.[S. 220] Auch Bürger huldigte anfangs der Mode tragikomischer und burlesker Balladen, die von Gleim geschaffen worden war. Merkwürdiger ist, daß er noch nach der ´Lenore´ gern in diesen Abweg einbog. Er meinte bis zuletzt echte Volkspoesie zu bieten, wenn er einen Stich ins Ironische wagte, die Dinge so vortrug, als wolle er sich über sie lustig machen. Gleich hemmungslos wie in der frühen ´Historia von der wunderschönen Durchlauchtigen Kaiserlichen Prinzessin Europa´ hat er es später freilich nicht wieder getrieben. Hier gibt sich Parodie des Antiken noch pöbelhafter als bei Blumauer. Es verharrt in den Grenzen der Aufklärung. [...] Er hat der englischen Vorlage Rhythmisches und Melodisches glücklich abgelauscht, aber nicht nur ´Frau Schnips´ bezeugt das Verrohende seiner Wortgebung. Schon Wilhelm Schlegel wies das an vielen Belegen nach. [...] Grundsätzlich will er den Beifall des gemeinen Manns erwerben, überzeugt, daß alle große, echte Poesie, Homer wie Ossian, Shakespeare, Ariost, sich zu ihren Zeitgenossen herabgelassen habe, um das zu werden, was für Bürger das eigentliche Kennzeichen wahrer Kunst ist: populär. So meint es sein ´Herzensausguß über Volkspoesie´, der 1776 im ersten Band der Göttinger Zeitschrift ´Deutsches - Museum´ erschien, eine der denkwürdigsten Kundgebungen der Asthetik des Sturm und Drangs. Zieht sie doch aus den Forderungen Hamanns nnd Herders die letzten und äußersten Schlüsse. Unbedingter konnte kaum dargetan werden, welche Gefahren der rousseanische Kampf gegen Kultur in sich barg, wieviel er zu zerstören drohte. Die Frühromantik hatte es nicht leicht, hier Ordnung zn schaffen und das, was auch ihr wichtig war, das Anknüpfen an altheimische deutsche Dichtung, vor dem Verdacht zu schützen, alles laufe nur auf Einbuße höherer Geistigkeit hinaus. So urteilte ja der deutsche Klassizismus, urteilte vor allem Schiller, nicht nur in der vielberufenen Verurteilung Bürgers, auch sonst.

[S. 221] Erst in der dreizehnten [Strophe der Lenore] meldet sich die 'Welt des Spuks an. Bis dahin geht von schier prosaischer Trockenheit, von einem Eingang, der das Tatsächliche ohne jede dichterische Steigerung (´Und hatte nicht geschrieben, ob er gesundgeblieben.´), es Schritt für Schritt empor zu immer wuchtigerer Aufwiihlung, durch Hoffnung, Enttäuschung, Verzweiflung, Gotteslästerung. Nun aber bietet Bürger schon seine bezwingende Kraft auf, Geräuschhaftes in Worte umzusetzen, deren bloßer Klang etwas Betörendes in sich hat. Fortan wird, im Gegensatz zu Bürgers Neigung, dem deutenden, wertenden, aufstachelnden oder verurteilenden Reden des Dichters breiten Spielraum zu gönnen, alles nur noch eiliges Zwiegespräch oder kurze Szenenangabe. Und in dieser spielt die Sprache der Naturlaute, die eine übereilige Bewegung begleiten, eine entscheidende Rolle. Der Ritt wird nicht rednerhaft herausgestrichen, nicht geschildert, sondern die Worte selbst drücken das tolle Hasten unmittelbar aus, es wandelt sich vor unserm Ohr in ein besinnungraubendes Gejage von Ausrufen, Sätzen, Strophen.”

 

1927

Roethe, Gustav. Schiller. Rede. Gehalten auf dem Kommers der Berliner Studentenschaft 6. Mai 1905. In: Deutsche Reden, Leipzig. (Sammlung Klaus Damert)

“[S. 336] Der Lehrer der ästhetischen Erziehung hat sein größtes Probestück abgelegt an sich selbst. Nie fehlte ihm der heilige Ernst der Kunst, auch dem Stürmer nicht. Aber erst seit in demselben Antikensaal zu Mannheim, der auch Goethe eine erste Ahnung antiker Plastik gegeben, der Funke in die Brust des gärenden Dramatikers gefallen, sehen wir die rastlos steigende Bahn. Die künstlerische Idee ist ihm erschienen, in der sich die organische Freiheit des Kunstwerkes offenbart, und sie wird ihn fortführen zur menschlichen Harmonie. Der erfolgreiche Dichter des Carlos und des Geistersehers gebietet sich Halt. Er ist sich unwürdig und unfähig zur Dichtung. Er züchtigt sich selbst, da er gegen Bürgers Lyrik harte Worte richtet. Je leuchtender ihm die versunkene Zeit künstlerischer Natur aus der hellenischen Vergangenheit sich darstellt, je bitterer empfindet er den Bruch in Leben und Kunst der Gegenwart. “

Die vollständige Rede in der ONLINE-BIBLIOTHEK

 

1927

Roethe, Gustav. Gottfried August Bürger. Zur Enthüllung seines Denkmals in Göttingen am 29. Juni 1895. In: Deutsche Reden, Leipzig. Digitalisiert von Google

“[S. 301] Wahrheit! Du bist grausam gegen deine Jünger! Was heute wahr ist, ist morgen Lüge, und wehe dem, der stehen bleibt, wo er steht, der sich nicht verjüngt von Tag zu Tage! Aber als Lenorens Klagen durchs deutsche Land erschallten, da war ihr Dichter der Besten, der Führenden einer! Wie siegreich schwang sich Bürgers erfolgreichstes Werk hinweg über alle pedantischen Skrupel der herrschenden Aufklärung: ´Das Herz ist Gottlob stärker als die Vernunft´ triumphiert ihr Dichter, als den Schauern seines Gespensterrittes auch das aufgeklärteste Philisterpublikum nicht widersteht. Es war ein großer Sieg, ein Sieg auch des künstlerischen Ernstes. Denn der theoretische Naturalist war ein Mann strenger poetischer Arbeit, der sich nur allzuschwer genug tat, der die Feile so herzhaft führte, daß er die köstliche Naivität, die liebliche Frische des ersten Wortes ihr schonungslos opferte. Er war kein Mann der leichten, flüchtigen Improvisation. Er hatte ein Ideal künstlerischer Wahrheit, dem er mit unermüdlichem Fleiße zustrabte, und dieses Ideal war die Volkspoesie.

[S. 303] Die höchste Simplizität, die allein eine Dichtung möglich macht, ebenso ergreifend für den Hochgebildeten wie für den einfachen Mann, die war Bürger versagt. In stürmenden Klangeffekten, in schreienden Farben, in scharfen Dissonanzen und süßen Harmonien, in Ausrufen und Fragen ohne Ruhe, ohne Einheit ziehen seine Balladen an uns vorüber; alles übertreibend, nichts mildernd, im Gräßlichen schwelgend wie im Lieblichen, wirkend eben durch Kontraste, die auch der gute Geschmack nicht mildert - das ist eine volle dichterische Persönlichkeit, aber es sind nicht die Schalmeien des Volkslieds; das ist eine vulkanische Individualität, die reine Flammen zum Himmel lodert und böse Schlacken speit; von der schlicht unpersönlichen knappen formelhaften Art der Volkspoesie ist Bürger himmelweit entfernt. Das ist wahrlich kein Vorwurf. Nur dadurch ist er dennoch ein Volksdichter geworden, gerade daß er so ganz er selbst ist. Nicht den burschikosen Scherzen, die er, durch burschikose Vorbilder angesteckt, geflissentlich mitten ins Gräßliche und Erhabene mengt; nicht dem Hurre Hurre Hopp Hopp Hopp, nicht dem Trallala Juchheisa, nicht den markigen altteutschen Worten, nicht den Derbheiten, Zynismen und Plazttheiten, die ihm vielleicht volkstümlich schienen, verdankt er seine Popularität: diese grobmateriellen Reize sind uns ebenso abgewelkt, wie die lehrhaften breiten Glossen, auf die er sich soviel zugute tat: sie sind uns heute Ungeschmack und fast lächerlich. Und doch zwingt uns die dramatische Kraft, der stürmende Fortschritt seiner
Balladen, die sinnliche Stärke, der sich jeder Gedanke zum Bilde, ja zum Klange gestaltet, unwiderstehlich in ihre Gewalt; der Atem sausenden Lebens reißt uns mit sich; Sonne, Mond und Sterne jagen über uns hinweg beim rasenden Gespensterritt; wir hören es, wie uns rechts und links geheimnisvolle Stimmen ins Ohr raunen; angstvoll sehen wir den wankenden Brückenpfeiler im Eisgang, auf dem zitternde Menschen ums Leben jammern; der schwüle giftige Liebeshauch der blühenden Bohnenlaube im Pfarrersgarten berauscht auch uns; wir freuen uns herzlich des Kaiserworts, das man nicht drehn und deuteln soll, und mit unverwüstlichem Behagen erfüllen uns immer aufs neue Hans Bendixens launige Schnurren. Popularität ist ein gefährlich Ding. Gehorchen soll die Dirne dem Genie, nicht herrschen. Manch niedriger, trivialer, demagogischer Zug in Bürgers Dichtung verrät gewiß, daß er allzuoft sich etwas vergab um der Heißersehnten willen. Aber im Letzten Tiefsten ist er doch seinem bessern Selbst treu geblieben. Nicht ganz ist es wahr geworden, was er sich prophezeite: ´Alle, die nach mir Balladen machen, werden meine ungezweifelten Vasallen sein und ihren Ton von mir zu Lehen tragen´. Seine Bahnen sind verlassen, mußten verlassen werden; denn nur er konnte sie gehen. Aber unverkümmert bleibt ihm der Ruhm, daß er die deutsche Ballade geschaffen, und die hinreißende Energie seines sinnlichen Lebens hat keiner seiner Nachfolger erreicht.

[S. 304] In den Irrungen und Wirrungen eines unstäten Gemütes bleibt Bürger der Geliebten treuer als sich selbst. Und alle seine Schmerzen, seine Kämpfe, unerwünschten Sieg und glückliche Niederlage hat er im Liede gebeichtet. Wahrheit! Der erste seit den Tagen Christian Günthers leuchtet er mit der Dichtkunst Fackel hinein in die Finsternis seines zerrissenen Herzens. Vorwurf und trotz, Reue und Seligkeit und alles verklärend die verzehrende, inbrünstige Liebe zu der Einen und Einzigen, alles strömt er in seine Verse. Das ist trotz Schiller ein gutes Recht des Dichters; ja es war gegenüber der verlogenen Stilisierung damaliger Lyrik etwas wie eine sittliche Tat. Ich rede den zynischen Offenherzigkeiten, mit denen uns moderne Poesie so oft langweilt, wahrlich nicht das Wort. Aber daß der leidenschaftliche Dichter das tiefe, unselige Leid, das hohe beseligende Glück seines Lebens auch in seine Verse versenkt, das war notwendig und gut: es war ja doch trotz allem das Beste was er hatte. Und dem wahrhaftigen Bekenner seiner Liebe war auch jener andere Cherub, war auch die Schönheit holder und treuer als dem Balladensänger.
  Bürgers Mollylieder sind reinste Offenbarung seiner poetischen Kraft: Gelegenheitsdichtungen in Goethes Sinne, sind sie die Morgenröte, die den vollen sonnigen Tag Goethischer Lyrik einleitet; auf Jahrhunderte rückwärts haben sie nicht ihresgleichen in deutscher Zunge.

[S. 305] ´Der Laute gleicht das Menschenherz, zu Sang und Klang gebaut, doch spielen sie oft Lust und Schmerz zu stürmisch und zu laut´. Bürger hat recht. Wohl zerreißt der Sturm der Leidenschaft auch in diesen Liedern nur allzu oft den freundlich hüllenden Schleier der Dichtung; wohl fehlt hier ganz jene tiefe sittliche Größe der entsagenden Selbstzucht, die Goethes Verse adelt. Aber wenn das arme zuckende Menschenherz es wieder und wieder sich abringt, künstlerisch Herr zu werden des wilden Dämons in seiner Brust, dann vermählt sich dem menschlichen Mitgefühl doch die Bewunderung für den gottbegnadeten Sänger. Die Mollylieder werden dem fühlenden und verstehenden Herzen leben ´bis zu den letzten Tagen, die der kleinste Hauch erlebt, der von deutscher Lippe schwebt´. “

Die vollständige Rede in der ONLINE-BIBLIOTHEK

 

1927

Kleinberg, Alfred. Sturm und Drang, Lyrik - Ballade - Idylle. In: Die deutsche Dichtung in ihren sozialen, zeit- und geistesgeschichtlichen Bedingungen. Berlin. 

“[S. 187] Überhaupt lag es ja einem Dichtergeschlecht, das in die Subjektivität erst hineinwuchs, begreiflicherweise nahe, sein Ich, auch wo es sich um lyrischen Ausdruck handelte, nicht unmittelbar, sondern an einem Gegenstand der Außenwelt zu objektivieren, und mit welcher inneren Notwendigkeit das geschah, beweist am besten der Fall Bürgers. In einem gedrückten Dasein als herrschaftlicher Amtmann sozial aufgewühlt, von wilder Sinnlichkeit zerrissen und durch eine schaurige Doppelehe mit Frau und Schwägerin (´Molly´) zermürbt, wäre er wie kein Zweiter vom Schicksal berufen gewesen, seine Qualen in reinen Bekenntnisdichtungen auszusprechen. Aber so oft er es unternahm, überwucherte die Reflexion und wuchsen die Beichten (von einigen späten, formgebändigten Sonetten abgesehen) ins Breite und Unplastische. Sobald sich jedoch seine Leidenschaft in einer aussergewöhnlichen Handlung entladen konnte - und das war eben in der von Bürger geschaffenen deutschen Kunstballade, in ´Lenore´ (1773), ´Des Pfarrers Tochter von Taubenhain´, dem ´Wilden Jäger´, ´Kaiser und Abt´ und der ´Kuh´ der Fall - da standen alle Dämonen leibhaftig auf, die hohnvoll des Dichters Brust zerrissen. Da strafften sich ihm Gefüge, Bild und Klang, wurden die Rhythmen, die Ausrufe und Schreie hinreißende Handlung, und bis zum Schlußwort gipfelte sich die Melodie als eine einzige, genial durchkomponierte Fuge. “

 

1928

Kommerell, Max. Schiller - Die Gesetzgebung. In: Der Dichter als Führer in der deutschen Klassik. Berlin 1928 (hier dritte Auflage Frankfurt/Main 1982)

“[S. 291] DADURCH daß in aller Dichtung ein verantwortlicher Wille, eine Maß setzende Gesinnung wirksam ist, steht die engere Klassik abseits von jeder andern dichterischen Bewegung in Deutschland. Beide Führer waren auf getrennten Wegen dazu gedrungen, beide hatten sich darin gefunden: daß das Werk des Dichters keine Willkürschöpfung von Traum und Gedanken noch auch Nachbildung des Wirklichen sei - sie ist die geistig erscheinende Form des in sich gerundeten Menschseins. Von diesem Begriff aus empfängt die Dichtung den hohen menschenbildenden Wert und wenn sich so ihre Würde über Weltweisheit Glaubens- und Sittenlehre erhöht (Zorn aller auf die ´unbedingten´ Werte Gerichteten) so wurde auch das Höchste von ihr gefordert: weder die reine Fertigkeit, weder das verjährt Süßliche noch das volkstümelnd Biderbe konnte vor diesem Anspruch bestehen und eine Reihe von Ablehnungen - sie beginnt mit Bürger und endet mit Kleist - bestätigt die beinah staatsmännische Strenge, mit der er aufrechterhalten wurde.
   Wie jeder verpflichtende Begriff schloß auch dieser andersgerichtetes Leben aus und verdrängte es wo es nicht edel genug war, eigenen Gesetzes versichert zu sein oder nicht stark genug, sein Anrecht gegen das fremde Anrecht zu wahren.

[S. 292] Alle Auseinandersetzungen zielen darauf ab daß ein Kanon geschaffen, eine Schulmeinung begründet werde. Schiller schreibt an Goethe: ´Indessen ist keine Frage daß schon viel gewonnen würde, wenn sich irgendwo ein fester Punkt fände oder machte, um welchen sich das Übereinstimmende versammelte .. wenn in diesem Vereinigungspunkt festgesetzt würde was für kanonisch gelten kann und was verwerflich ist, und wenn gewisse Wahrheiten, die regulativ für die Künstler sind, in runden und gediegenen Formeln ausgesprochen und überliefert würden. So entstünden gewisse symbolische Bücher für Poesie und Kunst, zu denen man sich bekennen müßte, und ich sehe nicht ein, warum der Sektengeist, der sich für das Schlechte sogleich zu regen pflegt, nicht auch für das Gute geweckt werden könnte. Wenigstens scheint mir's, es ließe sich ebensoviel zum Vorteil einer ästhetischen Konfession und Gemeinheit anführen, als zum Nachteil einer philosophischen.´ [Schiller an Goethe 23. Juli 1798] “

 

1928

Engel, Eduard. Was bleibt? Die Weltliteratur. 1928.

“[S. 99] Es hat gar nichts geschadet, daß Eugen Dühring Gottfried August Bürger für einen ´größeren Lyriker als Goethe´, für den ´wahrsten und bedeutendsten Lyriker, den die Deutschen aufzuweisen haben´, erklärte. Man denkt ernsthaft prüfend über den eigenwilligen Ausspruch eines Mannes wie Dühring nach, sagt sich aber sogleich, daß selbst ein noch größerer Philosoph als er nicht der zu einem maßgebenden Urteil über die Bedeutung eines Lieddichters Berufenste ist. Ebensowenig entscheidender Wert kommt dem Hohnworte Nietzsches über Friedrich Strauß ´den Bildungsphilister´ oder seinem doch arg geistlosen Witz von Schiller dem ´Moraltrompeter von Säckingen´ zu. Wär´s nicht Nietzsche, müßte solch Ausdruck milde schnoddrig genannt werden.

[S. 120] Welch eine blendende Lichterscheinung am Morgenhimmel der Deutschen Dichtung im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts war Bürger mit seiner Lenore. Wohl kennt man noch heute, überwiegend aus Schullesebüchern, zwei, drei andre Bürgersche Balladen, etwa das Lied vom braven Mann, den Wilden Jäger, Kaiser und Abt, und geflügelte Worte flattern aus diesen noch durch das Leben der Gegenwart. Ganz lebendig ist aber nur die Lenore geblieben, und von ihrem Leben lebt der Dichter Bürger. Von einem einzigen Lied; ist das aber nicht genug, nicht beneidenswert für einen Dichter, dessen Ziel ein bleibendes Gedenken in seinem Volke ist?

[S. 415] Gottfried Bürgers (1747-1794) leidenschaftliches Streben ging darauf, ein Volksdichter zu werden; er hat dieses Ziel, ´geliebt zu sein von seinem Volke´, nicht so zweifellos erreicht, wie er eine Zeitlang geglaubt hatte. Schiller hat in einer, vielleicht überstrengen, Besprechung der Bürgerschen Gedichte ihre sterbliche Stelle genannt: er tadelte an den Balladen das Hinabsteigen zum Volk, ´anstatt es scherzend und spielend zu sich heraufzuziehen´. Fast ungeschwächt in ihrer Wirkung sind nur noch die Balladen ´Lenore´ (1773), ´Der wilde Jäger, Das Lied vom braven Mann.´ Alle andre leiden peinlich an der absichtsvollen Erkünstelung eines Volkstons, der ins Rohe und Wüste umschlägt.
    Von Bürger rührt die Fassung der weltbekannten Geschichten Münchhausens her, die er aus dem Englischen eines gewissen Raspe, eines Hessen, übertrug und durch einige selbsterfundene Schnurren wie die vom Entenfang und vom Ritt auf der Kanonenkugel bereicherte. Der Münchhausen gehört zu den Deutschen Volksbüchern, die wie die Schildbürger und Eulenspiegel Weltbücher genannt werden dürfen: sie leben von der Freude des einfachen Lesers an einem guterzählten groben oder feinen Einfall. Auch in ihnen steckt der Reiz eines fesselnden Erzählungskerns, des ´Falken´.  Was bis jetzt von Bürger geblieben ist, wird bleiben, doch in weitem Abstande hinter Goethes und Schillers Balladen.”

Zu Bürgers Kritiker Friedrich Schiller schreibt Engel u.a.:

“[S. 432] Schiller (1759-1805) Am 10. Novemder 1859 trat das Deutsche Volk in den höchsten Edelstand der Menschheit ein: als es den hundertsten Geburtstag Schillers feierte, wie die Völker noch nie das Fest eines andern Menschensohnes gefeiert hatten. [...] Und jede Abhandlung in Prosa lebt, dazu Schillers zwei große geschichtliche Schriften. Was die Geschichtswissenschaft von heute über deren quellenmäßige Zuverlässigkeit sagt, ist gleichgültig; die Wissenschaft von morgen wird dasselbe über die von heute sagen. [...] Was Schillers Gedichte für die Kunst bedeuten, steht für immer fest. Daß er nicht im gleichen Maße Lieddichter ist wie Goethe, braucht nicht immer wieder hergeleiert zu werden, - es gibt noch höchste andre Versdichtung als die des sangbaren Liedes.

[S. 434] Schillers bleibender Wert für uns Deutsche ist zu messen nach der Edelpräge des Deutschen Seelenkerns durch ihn; seine Bedeutung für die Menschheit ruht in den Ewigkeitswerten seiner dichterischen Schöpfungen. [...] Zum Wervollsten Deutscher Männer gehört der Höhenschwung der Seele: bei keinem Deutschen Dichter finden wir eine stärkere Beflügelung des überirdischen Empfindens als bei Schiller. [...] Schillers Persönlichkeit hat der Deutschen Seele einen erhöhten Adel verliehen, und jede Beschäftigung mit ihm wirkt als tiefbildende Erziehung. Geist vom Geiste Schillers lebt seit seinem Wirken in allen wahrhaften Großtaten Deutschlands. Käme je ein Tag, an dem sich das Deutsche Volk von Schiller abkehrte, so würde sich die Menschheit vom Deutschen Volk abkehren.”

 

1928

Deutsche Stunde in Bayern. In: AZ am Abend (Allgemeine Zeitung), 26.05.1928/27.05.

“18.35 Lenore. Ballade von Gottfried August Bürger. Als Melodram von Franz Liszt. Gesprochen von Rudolf Hoch. Am Flügel Richard Staab.”
 

1928

Finanzkrach und die Finanzpolitik [Paris, Mitte Dez.] In: AZ am Abend, München , 187. Dezember

“[S. 10] Würde die Abtrennung der Anträge von der Budgetdebatte nicht gleich genehmigt, so knallte der Finanzminister mit der Peitsche der Vertrauensfrage, und wie in Bürgers Lenora, ´mit Hurra, Hurra, hopp, hopp, hopp, geht's fort im sausenden Galopp, daß Roß und Reiter schnoben und Kies und Funken stoben.´”

 

1928

Badischer Beobachter 04.12.1928


"Baden
Versammlung auf dem Land
Das sind Perspektiven aus der gegenwärtigen Lage nicht kleiner Kreise in Deutschland heraus. 'Geduld, Geduld, ob's Herz auch bricht, mit Gott im Himmel hadre nicht.'
Darum sucht ja der Bolschewismus wie in Rußland, so auch in Deutschland den Gottgedanken aus den Herzen zu reißen, damit mit der Geduld auch anderes zusammenbricht."

 

1928

Der Volksfreund 2.3.1928

"Der badische Beamte hat bis April noch nicht lange genug gewartet, er kann weiter warten, vielleicht bis Juni oder Juli. Für ihn heißt es auch fernerhin: „Geduld! Geduld! Wenn's Herz auch bricht!" Konfirmation, Kommunion, Eintritt in die Lehre, Beginn des Hochschulstudiums, Schuljahranfang usw. bringen ja keine Ausgaben! Was gedenkt der Landtag in dieser Sache zu tun?"
 

1928

Badische Presse 6.2.1928


„'Geduld! Geduld! Wenn's Herz auch bricht!' Aber es brauchte, noch nicht zu brechen. Mit einer der letzten Morgenausgaben ist sie aufgestiegen, die Morgenröte einer neuen Zeit. Neben meinem Morgenkaffee, der erstmals wieder normal ausgeschaut hat, lag unser Morgenblatt. Strahlend wie die Julisonne deutete meine Kunigunde auf die von ihr morgenrötlich angestrichene Besoldungsordenung."

 

1929

Hentschel, Adolf und Linke, Karl. Bürger. In: Kleine Deutsche Literaturkunde. Braunschweig.

“[S. 42] In Göttingen, wo er mit den Dichtern des Hainbundes bekannt und befreundet wurde, wandte er sich mit leidenschaftlichem Eifer seinem Lieblingsgegenstand, der Poesie, zu, und der Erfolg war ein außerordentlicher. Seine schwungvollen Verse packten und zündeten in einem Grade, daß er eine Zeitlang der auserkorene Liebling der Nation war.

[S. 43] Auch den gesunden Sinn und Witz des Volkes weiß er meisterhaft zum Ausdruck zu bringen: ´Der Kaiser und der Abt´; kurz, er versteht es trefflich, dem Volke sich zu nähern, und war eben darum der auserkorene Liebling desselben. “

 

1929

Krienitz, Ernst. Gottfried August Bürgers Jugendlyrik 1767-1773. Dissertation Universität Greifswald.

"[S. 104] Anakreontik, Empfindsamkeit, Sturm und Drang sind die drei literarischen Grundströmungen, die sich in der ersten Periode der lyrischen Entwicklung Bürgers am augenscheinlichsten zeigen. Dadurch, daß keine von ihnen in ihrer ganzen Eigenart erfaßt ist, daß sie im Gegenteil wahl- und kritiklos und ohne das rechte Stilgefühl übereinander gelagert erscheinen, erhalten die lyrischen Erzeugnisse der ersten Periode das ihnen eigentümliche Gepräge.

[S. 105] Selbst da aber, wo Bürger ganz in die eine oder andere Strömung untertauchte, blieb er ein Kind des 18. Jahrhunderts, des goldenen Zeitalters der Aufklärung. Seine Empfindung bleibt im Materialistischen, Grobsinnlichen und Mittelmäßigen stecken; seine Phantasie verläßt nur selten den Boden des Zweckvollen und Nüchternen; das Erhabene und Überwältigende bedrückt ihn, und vom Kosmischen, Religiösen wendet er sich geradezu ab. Zu absoluter Befreiung des Gefühls dringt Bürger in der ersten Periode nicht vor.

[S. 107] Bürger begann also mit unter dem Zwang von Konvention und Tradition stehenden Erzeugnissen der Anakreontik. Über die gefühlvertiefende Empfindsamkeit und den befreienden Sturm und Drang fand er den Weg zu individueller Gestaltung. [...] Aber noch eins läßt sich aus dem Rückblick über die erste Periode gewinnen: die untrügliche Überzeugung von dem engen Gesichtskreis, in dem der Dichter den Stoff für seine Lyrik sammelte. Immer wieder tritt Bürgers Lebensfreude und die Sinnlichkeit in den Vordergrund seines Erlebens und Empfindens; er bleibt sich gleich, ob nun die Anakreontik in konventioneller Weise ihn vorgeschriebene Laute anschlagen läßt, ob Studenten- und Gesellschaftslied ihn unter Berührung seiner volksgebundenen elementaren Veranlagung zu derberen Tönen begeistert, ob die Empfindsamkeit wenigstens vorübergehend ihn tiefer rührt, oder ob schließlich unter dem Einfluß des Minnesangs sich ein Anflug echter, naturverbundener Lyrik bemerkbar macht. [...]
   Und nicht allein Bürgers Lyrik, für die in der ersten Periode weniger durch die einzelnen Stilarten der Grund gelegt wird - Bürgers Naturell gab hier den Ausschlag - ist bereits in der ersten Periode vorgebildet. Balladenhafte Stoffe bildeten den Vorwurf zu seinen ersten Veröffentlichungen - anakreontische Tändeleien, die dem leichtsinnigen und oberflächlichen Studenten bequemer waren, machten ihn der epische Dichtungsart vorübergehend untreu; unter dem Einfluß der volkstümlichen Kunst von Studenten- und Gesellschaftslied wird er der komischen Romanze gewonnen, wobei seiner ungehemmten Gefühlsäußerung tüchtig Vorschub geleistet wird; die Beschäftigung mit dem Minnegesang und das Lauschen auf die Töne in der eigenen Brust fördern die ernsthafte Ballade und machen ihn frei von den erstarrten, ihm ungelegenen Vorbildern.
   Das abschließende Werk der Frühzeit ist die ´Lenore´; mit ihr erhält Bürger den Ritterschlag zum Dichter. Er fühlt sich als Meister und dichtet, wie er es für richtig hält, von nun ab auch auf dem Gebiete der Lyrik, und er hielt alles für richtig, was aus seiner Feder floß, und glaubte, seine Werke stützen zu müssen durch Theorien und Grundsätze, die nur für ihn maßgebend, niemals aber allgemein gültig sein konnten.
   Das reiche Schaffen Bürgers floß einher in uneingedämmter Flut, das Werk eines Stürmers und Drängers, dem jedoch das Form- und Regellose der himmelstürmenden Generation zur Unform wurde, der sich selbst nicht zu zügeln vermochte - ihm zerrannen Leben und Dichten."

Krienitz Dissertation in der ONLINE-BIBLIOTHEK

 

1929

Hachtmann, Otto. Gottfried August Bürger. In: Mitteldeutsche Lebensbilder.

“[S.181] Wir fühlen allzu sehr, daß Bürger für wirklich tiefe Gefühlsdichtung als Mensch zu dürftig und primitiv war. Bei der Ballade wurde dieser Niveaumangel bisweilen zum Vorzug, aber Bürger trieb die Volkstümlichkeit zu weit und geriet damit oft ins Geistlose.

[S.183] Im ganzen wird man sagen müssen, daß dem Menschen wie dem Dichter Bürger die volle Auswirkung der unzweifelhaft vorhandenen Genialität versagt geblieben ist. Ein böser Dämon ließ ihn nicht zu den reinen Höhen edlen Menschentums und vollendeten Dichtertums emporsteigen. Ein genialer Freund oder eine hochgesinnte Frau hätten ihn vielleicht retten können, aber er fand statt eines Johann Gottfried Herder nur einen Christian Adolf Klotz und statt einer Charlotte von Stein nur eine Auguste Leonhart. Sein Leben verlief wesentlich in dumpfen Niederungen. Auch die Freunde, mit denen er brieflich verkehrte, waren alle Geister zweiten Ranges: weder der treue und redliche Boie noch Biester noch Göckingk konnten ihn wesentlich fördern.”

Hachtmanns Arbeit in der ONLINE-Bibliothek.

 

1929

Strobelt, Else. Die Halberstädter Anakreontik, Goeckingk und Bürger. Dissertation Univ. Leipzig

"[S. 57] Gottfried August Bürgers ungebändigtes Temperament, das ihn zu der Liebe zweier Schwestern führte, die er gleichzeitig als Frauen besaß, rief auch eine Umwälzung in der Lyrik hervor. Denn die Bedeutung dieser Liebe lag darin, daß die Welt davon in Liedern erfuhr, die die ganze Seele des Dichters aufdeckten.
   In der Lyrik des vorhergehenden Zeitraumes kam es selten vor, daß der Dichter eigne Stimmung gab, oder gar von seinem Innenleben redete. Die Anakreontiker und die Idyllendichter machten den Versuch, naive Kindlichkeit in ihrer Dichtung zu geben, um alles Nüchterne, Rationale und Pathetische abzustreifen. Der Versuch mißlang. Bürgers Lyrik nun offenbarte eine große Seele, ihre ganze Zerrissenheit. Es erwuchs die Frage, wie weit der Dichter berechtigt sei, seine Seelenuntergründe in der Dichtung zu entschleiern. Schiller verdammte die ungeläuterte, ihr Triebleben offenbarende Individualität des Dichters. Aber Bürger war Realist und machte immer wieder die Schilderung des Erlebens ohne alle Idealisierung zum Kunstprinzip. Er konnte sich nicht zu dem Standpunkt eines Schillers hinaufschwingen, sein unmittelbares Erleben überwinden und in die Sphäre einer idealisierenden Kunst emporheben.

[S. 65] Bürgers geniales Talent hatte sich im Laufe der Zeit zu einer ihm eigentümlichen Kunstart durchgerungen. Seine früheste Dichtung jedoch bewegt sich im Geitse der Anakreontik. Das Milieu, die Stimmung und der Ton seiner ersten Gedichte sind die gleichen wie in den Halberstädter Liedern. Das traditionelle Spielen mit den Figuren der antiken Götterwelt, das scherzhafte Element im Betrachten der Dinge, der frivole und pikante Scherz, die arkadisch-idyllische Stimmung mit ihren sentimentalen Gefühlen - alle diese Züge finden sich bei Bürger bis zur ´Lenore´.

[S. 68] Bürger hat also keine innere Einstellung zu einer begehrungslosen schwärmerischen Liebe.

[S. 79] Es ist Bürgers innerstes Sein, das ihn von der leichten tändelnden Dichtkunst weg in andere Bahnen zwingt. Der Sturm und Drang rüttelt ihn auf. Sein Inneres wird mächtig erregt. Er sucht dem Leben, dem Menschen nahezukommen. [...] Unter dem Einflusse der antiantiken Bestrebungen der Kunst, erwacht in Bürger mächtig das Bewußtsein des Völkischen und der Zugehörigkeit zum Volksganzen: ´Deutsche sind wir! Deutsche, die nicht Griechische, nicht Römische, nicht Allerweltsgedichte in Deutscher Zunge, sondern in Deutscher Zunge Deutsche Gedichte verdaulich und nährend für´s ganze Volk machen sollen.´

[S. 81] Das Motiv der ´Abendphantasie eines Liebenden´ ist ebenfalls rein ankreontisch. Der Dichter eilt in Gedanken an das Lager der Geliebten, deren enthüllte Reize seine Liebe noch mehr anfachen. Aber das offene Bekenntnis des körperlichen Verlangens und die glühende Leidenschaft der letzten Strophe beweisen, daß Bürger mit der tändelnden Sinnlichkeit der Anakreontik gebrochen hat.

[S. 82] In diesem Lied [Das Mädel, das ich meine] hat Bürger die Anakreontik überwunden. Was Bürger für die Poesie verlangte, expressive Volkssprache, greifbar bildhaften Ausdruck und ursprünglichste Simplizität der Gefühle, das hat er selbst in vielen seiner besten Lieder erreicht. Während die Anakreontiker die Lebensfreude, die sie anstrebten, nur in einem leichten Spiel der Formen zu fassen vermochten, kommt bei Bürger die strahlende Freude am Leben durch den Einklang von Form und Gehalt, durch die Mozartisch-helle Klangfreudigkeit des Tones in vollendeter Weise zum Ausdruck."

Strobelts Dissertation in der ONLINE-BIBLIOTHEK

 

1930

Engel, Eduard. Bürger. In: Kurzgefaßte Deutsche Literaturgeschichte. Leipzig  (Sammlung Klaus Damert)

“[S. 146] Was er gefehlt, hat er schon im Leben gebüßt; die Nachwelt sollte nur seine unter Seelenqualen vollbrachten Schöpfungen bewundern, nicht aber an unserm frühesten großen Balladendichter ein Splittergericht vollziehen.
   Zum lebendigen Schatz Deutscher Dichtkunst gehört Bürger nur durch seine Balladen.

[S. 147] Von Bürgers übrigen Balladen sind die wertvollsten: Der wilde Jäger, dessen Strofe: ´Drauf wird es düster um ihn her Und immer düstrer wie ein Grab´ den Höhepunkt seiner Balladendichtung bezeichnet; ferner Das Lied vom braven Mann (1776), Der Kaiser und der Abt, Die Kuh. - Unter Bürgers liedhaften Gedichten sind manche sehr schöne, doch hat sich keines so frisch erhalten wie einige der Balladen. [...] Bürger hat das seit dem 17. Jahrhundert fast vergessene Sonett zu neuem Leben erweckt; seine Sonette gehören nach Inhalt und Form zu den schönsten der Gattung und wurden von Schiller in seinem herben Aufsatz über Bürger gerühmt.“

Der vollständige Beitrag in der ONLINE-BIBLIOTHEK

 

1930

Blömker, Friedrich. Das Verhältnis von Bürgers lyrischer und episch-lyrischer Dichtung zur englischen Literatur.  Dissertation Universität Münster (Westfalen) 

“[S. 69] Wie sehr sich Bürgers Kunstideal in seinen späteren Lebensjahren nach dem einseitig Formalen entwickelt hat, zeigt so recht eine seiner letzten großen Arbeiten, in der er sich dem bedeutendsten der englischen Klassizisten zuneigt. Gemeint ist die umfangreiche Dichtung ´Heloise an Abelard.´, eine Uebertragung von Popes bekannter Heroide ´Eloisa to Abelard.´. [...] An dem langen Gedicht zeigt sich noch einmal seine aus seinem ausgeprägten Individualismus bestimmte Manier mit all´ ihren Auswüchsen und Uebersteigerungen. Ein positives Können zeigt er in der glänzenden Beherrschung der Sprache, in dem fehlerlosen metrischen Bau.

[S. 77] Wenn Bürger mit der ´Lenore´ der eigentliche Begründer der ernsten deutschen Ballade ist, so ist Shakespeares Anteil daran nicht gering. Er ist das Hauptvotrbild für einen dramatisch bewegten, gesteigerten inneren Aufbau, für die lebenswahre Auffassung der Personen, für die ernsthafte poetische Verwertung des volkstümlichen Gespensterglaubens und endlich der Lehrmeister für die bildkräftige Schilderung einer großartigen Natur, die den die Gesamtstimmung ergänzenden Rahmen abgibt für die Vorgänge im Schicksal der Menschen. [...] Als Bürger dann nach rascher Ausschöpfung des eigenen Phantasieschatzes nach Anregungen sucht, als sein Werk aus Mangel an Stoff zu einem vorzeitigen Abschluß gezwungen scheint, da kommt ihm auf seinem eigensten Gebiet in der englischen Volksliedbewegung wiederum der entscheidende Anstoß für das poetische Weiterschaffen. Erst die Sammlung des Bischofs Percy, die in einem großen Teil ihres Gehalts Bürgers Ideal wahrer Volkspoesie auf das vollkommenste entspricht und mit ihren meist dem nordischen Kulturkreis entnommenen Figuren und Stoffen und ihren nordischen Landschaften bei unserem norddeutschen Dichter auf eng verwandte Ideen- und Gefühlskreise trifft, haben wir den größeren Teil seiner Balladendichtung überhaupt zu verdanken. [...] In der Gesamtheit der konkret erfaßbaren Einwirkungen englischer Dichtung auf das Werk Bürgers lassen sich zwei verschiedene Arten der Bearbeitung des fremden Gutes unterscheiden. Einmal nimmt der Dichter Anregungen allgemeiner Art, vereinzelte Motive oder kleinere Episoden von außen in sich auf, vereinigt sie mit dem in ihm ruhenden poetischen Gut und formt daraus das Dichtwerk, wie es etwa in der ´Lenore´ der Fall ist. Wo er so verfährt, entsteht, wenn wir von der aus überhitzter, unnatürlicher innerer Steigerung entstandenen Ballade ´Lenardo und Blandine´ absehen, gewöhnlich das poetisch wertvollerer Werk. [...] Die andere Form seiner Arbeitsweise ist das Nachschaffen in engerem Sinne, wo Bürger das Amt des Uebersetzers annimmt, wobei er der eigenen Phantasie öfters einen weiteren Spielraum einräumt. [...] Das Ergebnis ist recht schwankend und fällt oft, weil einmal die als Vorlagen benutzten fremden Dichtungen zu Vergleichen auffordern, nicht zum Lobe Bürgers aus. Denn seiner ganzen Artung nach ist er wenig zum Uebersetzer geeignet. Seine stark ausgeprägte, immer auf das Originelle drängende Individualität läßt ihn sich selten ganz in den vorliegenden Stoff einfühlen und sich selbst lediglich als williges Werkzeug des fremden Dichters betrachten. Diese Selbstverleugnung fällt ihm schwer.

[S. 79] Ein weiteres wichtiges Moment für das Charakteristische seines Nachschaffens ist Bürgers starke Milieugebundenheit.
[...] Wo er irgendwie Volksgut zur dichterischen Bearbeitung wählt, sieht er es von dieser durch seine eigene Zeit bestimmte Warte. Paßt der ergriffene Stoff in diesen Rahmen hinein, so ist er der vorliegenden Form mindest ebenbürtig, wenn nicht überlegen. Im anderen Falle entsteht ein Werk voll innerer Widersprüche und Gegensätze [...].”

Blömkers Dissertation in der ONLINE-BIBLIOTHEK

 

1930

Der Abend, Spätausgabe des "Vorwärts" 30.0.1930


"Politische Dichtung im 18. Jahrhundert
[...]
Aber Bürger ist auch der einzige, der sich nicht die Nachtmütze des Philisters über die Ohren zieht und unters Federbett kriecht, als sich das prachtvolle Wetterleuchten in Frankreich in ein gewaltiges Gewitter mit Blitz und Donnerschlag verwandelt.
          Hermann Wendel"

 

1930

Neue Mannheimer Zeitung 22.8.1930


"Gelände für den neuen Bahnhof.
Einmal aber wird kommen auch für Heidelberg der klassische Tag, da auf dem 'Baggerloch' ein neuer Bahnhof und auf dem dortigen ganzen Gelände ein neuer Stadtteil ersteht. Nur Geduld ist vonnöten — 'Geduld, Geduld, wenn's Herz auch bricht', läßt Bürger in seiner Leonore die Geister heulen. Und schließlich: es ist alles auf dieser Welt dem Wechsel unterworfen, auch der — Dalles."

 

1931

Flemming, Willi. Der Wandel des deutschen Naturgefühls vom 15. zum 18. Jahrhundert.

“[S. 98] Wie Iphigenie und Ibycus empfindet man die Schattenhallen des Waldes als Ort erhabener Gedanken, aber nicht mehr wie im 17. Jahrhundert niederdrückend, beklemmend. Anmut dagegen lacht in der Rokokolandschaft. Sie besteht nicht schlechthin aus den Wiesen und Feldern des norddeutschen Flachlandes, auch nicht bei Hagedorn. Die Weite der Ebene wird gleichsam in kleine Kammern aufgeteilt, die von Gebüsch oder Wald umrahmt sind, friedlich und gemütlich erscheinen. Das Ideal sind: ´jene Gegenden von Steinen und Gefilden; / Der Anmuth Überfluß erquickt dort Aug und Brust: / O Licht der weiten Felder! / O Nacht der stillen Wälderl´[Hagedorn]. Die Wiesengründe sind gerahmt von Wäldern und Hügeln. ´Dort Ährenfelder / Und Wiesengrün / Und blaue Wälder / Die Grenze (I) ziehn' [Bürger: Das Dörfchen]. Auf solche Weise findet das Gefühl Schutz vor der unbehaglichen Weite, die seIbst Goethe und Forster nicht erträglich fanden. Es ist, als ob den Beschauer ein Gefühl des Schwindels überkäme vor der absoluten Fläche und er sich an das Geländer klammerte, so sucht der Blick die begrenzenden Erhebungen, Wald oder Hügelkette. Die kleine, belebte und umhegte Fläche ist also das Raumideal der Zeit. Am liebsten wird als Schauplatz ein idyllisches Tal gewählt; und das Gefühl der Geborgenheit drückt sofort Hagedorn: ´wo wir von Berg und Buchen / Umschlossen sind´. Auch Bürger schwärmt [Königin von Golkonde] von einem ´geheimen Tal, gebildet von zwei Höhen, / Bekränzt mit Birken und mit Schlehen´; und als deutlicher Abschluß: ´Durch eine Lücke stellte sich / An eines Hügels sanftem Hange / Ein Dörfchen dar.´ Fluß oder Bach darin liefert beliebte Motive; Quellen dagegen gehören zu den Wäldern.”

 

1932

Rosendahl, Erich. Gottfried August Bürger. In: Niedersächsische Literaturgeschichte.

„[S. 89] Man braucht diesem Urteile durchaus nicht ohne weiteres zuzustimmen, kann vielmehr der Meinung sein, daß Klotz, wenn auch nicht ein „Orakel des guten Geschmacks“ und überragendes Genie, so doch ein Gelehrter war, der auf seine Schüler  und auch auf Bürger mannigfach anregend wirkte. [...] Wie viele Entwürfe von allerlei Art – man denke nur an Übersetzungen und Tragödien! - sind angefangen worden und liegen geblieben! Wie viel Unreifes, offenbar flüchtig Hingeworfenes findet sich in den Gedichten, und daneben Vieles, was des größten Dichters würdig ist. [...]
Nur darauf sei aufmerksam gemacht, daß heutzutage allzu große Geneigtheit besteht, immer nur von dem Balladendichter Bürger zu sprechen. Und doch möchte man Bürgers reine Lyrik fast noch höher stellen. Hier findet sich manches Lied, das sich an Tiefe der Empfindung und an Schmelz und Wohllaut des Verses dem Schönsten anreiht, was deutsche Dichter je gesungen haben.
Wie wundervoll sind doch die Molly-Lieder!“

Rosendahls Aufsatz in der ONLINE-BIBLIOTHEK

 

1932

Riesaer Tageblatt und Anzeiger 19.11.1932


"Zum Totenfest.
Wer so zu Jesus und zum Tode steht, für den verliert das Sterben seine Schrecken und das Grab sein Grauen. Da, wo für den glaubenslosen Weltverstand die einzige trostlose Weisheit bleibt: Tot ist tot, verloren ist verloren - da leuchtet die große selige Christenhoffnung auf über dieser Welt der Trümmer und Ruinen."

 

1933

Hankamer, Paul. Deutsche Literaturgeschichte. Bonn 1933

“[S. 195] Ähnliches gilt von der Kunst Bürgers, den August Wilhelm Schlegel rühmte: ´den deutschen Volksgesang erschufst du wieder´. Quellender, aber auch brüchiger in sich und in seinem Werk, offenbart er die tragische Gefahr der Fragmentarik dieser Generation, die sich als Ur-Selbst will und oft zum Spiel der Triebe und Leidenschaften wird. Die Mitte seines Werkes ist die Ballade, die er aus dem flachen Bänkelsängerton der hier notwendig travestierenden Rokokokunst hinausführt in den Bereich des Dämonischen und Elementaren, der in Wahn und Sage des Volkes lebte und den er wieder zu erspüren vermocht hat. August Wilhelm Schlegel hat in seiner Charakteristik gegenüber der ungerechten Kritik Schillers die Bedeutung und Grenze Bürgers gezeigt: seine urprüngliche dichterische Kraft wie die virtuos absichtsvolle und oft plumpe volkstümliche Form, die ihn das drastische und oft niedere Wort, das eingängliche statt des ausdrücklichen wählen ließ. Wird er auch so oft zum krassen Effekt statt zur klaren Gestaltung verführt, so war er doch der Schöpfer der Ballade, die den dämonischen Schauer der Volksseele einfing, weil er selbst in der Nähe der dumpfen Gewalten lebte, weil sie seine eigene Seele durchwalteten. Was in der Lenorenballade echt und dicht als Wirklichkeit des elementaren Spuks erscheint, klingt im Lied als Erlebnisausdruck des untergeistigen Seelenraums, in dem dunkle Gewalten gleich spukhaft sein Schicksal weben. Aus verwirrter und zerquälter Leidenschaft lebt dieses Lied und läßt den Strudel von Trotz und Qual, Humor und Verzweiflung gerinnen.Es gestaltet sein Bild als des wie ohnmächtig Besessenen von dämonischen Mächten, als des ´Mannes der Lust und Schmerzen´. Dem Hainbund nur locker verbunden, ist er ein Mittelglied zwischen diesem Kreise und dem Straßburger [...].

[S. 214] Im deutschen Volk lebt er [Schiller] nicht nur durch das größte deutsche Trauerspiel, durch den Wallenstein, und durch seine Dramen, die den klassischen Kunstwillen dem Volke vermittelten, er lebt und lebte als ein Bild deutsch-klassischer Menschlichkeit, ungleich stärker und wirkungsvoller als jeder andere deutsche Dichter, als Goethe selbst, von Hölderlin und Kleist zu schweigen.

[S. 215] Was Schiller in seiner Lyrik und vor allem in seinen Balladen den Deutschen schenkte, kann unter dem Begriff einer hohen sittlichen Lehrdichtung zusammengefaßt werden. Ein Vergleich zwischen den ´Kranichen des Ibykus´und Bürgers Lenorenballade läßt das Wesentliche seines klassischen Stils gegenüber dem Sturm und Drang und auch die persönlichen Unterschiede klar erkennen. Bürger gestaltet in seiner großen Ballade eine Welt naturhaft elementarer Mächte und dämonischer Gewalten. Spukhaft sinnlos und doch wirklich. Zwischen würgendem Banntraum und schauerndem Lebensgrauen entstand dies Gedicht und formt sich aus einer menschlichen Seelenlage, die nicht verständig und verständlich ist, weil in ihr der dunkle Grund des Lebens sich eröffnet. Schillers Dichtung zeigt die Gewalt des sittlichen Gewissens auf als eine nicht aus menschlichem Verstand, sondern aus seelischer Tiefe kommende Macht. Die tragische Kunst ruft das Gewissen auf; ein höchstes Werk menschlicher Vernunft bewirkt, daß die sittliche Weltordnung sich verwirklicht. Schiller lehrt und stellt schön und wirkungsvoll ein Beispiel dar, wie sich das Grauen der sittlichen Vernunft dienend fügt. Aus der Lenorenballade Bürgers weist nichts in eine rationale Welt. Sie lehrt nichts. Goethes Balladendichtung zeigt sich im Erlkönig sich Bürger am nächsten, läßt in dem Fischer und der Braut von Korinth einen Blick in die geistige Welt tun und steht mit seinem Schatzgräber etwa der Schillerschen Kunst am nächsten, die ernsten sittlichen Lehrgehalt in edler Rede vorträgt und so seine Forderung an den Künstler verwirklicht, Erzieher des Volkes zu einer ästhetischen und zugleich sittlichen Kultur zu sein.“

 

1933

Sternitzke, Erwin. Der stilisierte Bänkelsang. Dissertation Philipps-Universität zu Marburg.

“[S. 4] Ursprünglich hat der Bänkelsänger seine Moritaten selber verfaßt: ´Die fliegenden Blätter waren früher im Grunde Verlagsartikel derer, die sie auf dem Leierkasten verkauften. Da nach dem Pressegesetz Druck und Druckort der fliegenden Blätter genannt werden mußten, so wurden die Moritaten mehr und mehr Verlagsartikel der Buchhändler und -drucker´. Aber noch im 19. Jahrhundert hat man zwischen solchen zu unterscheiden, die vom Bänkelsänger herrühren und anderen, die von Gebildeteren für ihn hergestellt wurden. Die Besonderheiten des Bänkelsängerstils legen am deutlichsten Zeugnis dafür ab, daß er aus ungebildeter Hand hervorgegangen ist. Nachher wurde dieser Stil mit allen seinen Eigenschaften ein Maßstab auch für die gebildeten Verfasser, die möglichst ´echte´ Moritaten liefern wollten. Mit der Feststellung der Tatsache, daß der Bänkelsänger auch schöpferisch an seinen Darbietungen beteiligt ist, wird nicht gleichzeitig die Frage entschieden, ob der Bänkelsang zur Kunst-oder Volksdichtung zu rechnen ist. Mit Volkspoesie hat er nichts gemein. Der Bänkelsänger dünkt sich weit über seine Zuhörerschaft erhaben, und seine Ausdrucksweise verrät deutlich das Bemühen um einen gebildeten, hochpoetischen Ton. Allerdings war seine Wirkung auf die Volksseele so groß, daß zahlreiche Moritaten ins Volkslied eindrangen, und gerade diese Schauerballaden wurden am liebsten gesungen

[S. 5] Zur Volksdichtung gehört allein, was Ausdruck gemeinsamen Denkens und Fühlens ist. Dies trifft für den Bänkelsang nicht zu; er ist nur auf den Geschmack des Volkes zugeschnitten. Er ist volkstümlichste, auf niedrigster Stufe stehende Kunstdichtung.

[S. 17] Das Verdienst Bürgers um die deutsche Ballade hat die gebührende Würdigung erfahren: Bürger gilt als der Schöpfer der modernen Kunstballade. Alle weitere Balladendichtung geht auf ihn zurück. Man hat den gewaltigen Schritt, der von der bisherigen Romanzendichtung wegführt, empfunden, und es fehlt nicht an Erklärungen dafür, woher Bürger diesen neuen Ton, den Balladenton, genommen hat.

[S. 18] Hätte Bürgers ´eigene Individualität´ die Wendung zur ernsten Ballade gefordert, entspränge die Abwendung von der ironisierenden Romanze einer künstlerischen Notwendigkeit des ´wirklichen´ Dichters Bürger, wie ließe es sich erklären, daß Bürger im Romanzenstil unentwegt weiter schafft, ja, daß weitaus die meisten seiner burlesken Romanzen nach der ´Lenore´ erst entstanden sind. Es ist kein folgerichtige Entwicklung von der Romanze zur Ballade, sondern ein Nebeneinander beider Gattungen zu beobachten. Es ist also nicht angängig, von einer durch Bürgers ganze Veranlagung bedingten ernsten Auffassung der ironisierenden Romanze zu sprechen. Die Einstellung Bürgers zur Romanze war zwar eine etwas andere als die Gleims und der übrigen Romanzendichter, zu einer Abkehr von der Gattung als solcher kam es aber nicht.
     Bürger mußte indessen eine unmittelbare Veranlassung haben, einen ernsten Ton anzuschlagen, ebenso wie er seinen Grund hatte, bei der Gleimschen Manier zu bleiben, und zwar weil sie ihm durchaus zusagte. Die Beziehungen zum VoIksIied sind von keinem maßgebenden Einfluß auf die Diktion der Bürgerschen Ballade gewesen. Sie beschränken sich auf wenige motivische Entlehnungen. Stofflich war Bürger stets auf Vorbilder angewiesen. Die Tatsache, daß die Bänkelsängermanieren in den Balladen ebenso stark auftreten wie in den Romanzen, spricht gegen einen wirksamen Einfluß des Volksliedes. Sie macht dagegen wahrscheinlich, daß der Bänkelsang jetzt immer noch oder vielmehr nun erst recht als vorbildliches Muster galt. Es muß jedenfalls auffallen, daß Bürger da, wo er wirklich bänkelsängerische Stoffe behandelt, nicht nur die Pose des Bänkelsängers annimmt, sondern auch mit dem Einsatz seiner ganzen Persönlichkeit das gleiche Bestreben zeigt, nämlich eine tieferschütternde Wirkung auf den Zuhörer auszuüben.

[S. 20] Ihm, dem stark sinnlich veranlagten Mann, bedeutete der Bänkelsang mehr als den Romanzensängern. Die dämonische Gewalt, die der Bänkelsänger auf sein Publikum ausübte, ergriff ihn ebenfalls. Bürger erkannte die ausgezeichnete Möglichkeit, das für die Ballade auszunützen, was der Bänkelsänger als Bannmittel für sein Publikum brauchte: mit sprachlichen und bildlichen Mitteln den Zuhörer auf das stärkste zu erregen, seine Aufmerksamkeit und Anteilnahme ständig wachzuhalten. Was dem Bänkelsänger mit allzu groben Mitteln nur beim Ungebildeten gelang, das will Bürger bei allen erreichen. Was bei jenem sich vor allem aus geschäftlichen Zwecken ergab, wird hier in den Dienst künstlerischer Wirkung gestellt. Bürger erfaßt den Bänkelsang dort, wo die Kraft in ihm steckte, sich jahrhundertelang zu behaupten, worin seine Volkstümlichkeit am tiefsten wurzelte. Dieser Auffassung entspricht sein Ideal von Volkspoesie: ´Wahre Poesie ist für jedermann.´ Derselbe Grundsatz, nach dem der Bänkelsänger handelt, gilt für Bürger: Gesungen wird, was gefällt. ´Und diese (echte, d. h. mit Leidenschaft belebte Poesie) sollte nicht für das Volk, nur für wenige Pfefferkrämer sein? Ha! Als ob nicht alle Menschen - Menschen wären. . . . Alle Menschen haben fünf Sinne, haben Einbildungsvermögen und Leidenschaften. Gäbe es ein ganzes Volk, dessen Nasen so organisiert wären, daß ihnen Teufelsdreck besser röche als die Rose, dem besinge man Teufelsdreck statt der Rose. Den will ich sehen, der diesen Satz umstoßen will aus der Poetik für ein solches Volk . . . Phantasie und Empfindung sind die Quellen aller Poesie. Gegenstände, welche das sinnliche Vorstellungsvermögen nicht auffassen kann, und welche an keine Saite des sinnlichen Gefühls schlagen, sind außer dem Kreise der Poesie´. Mag Herders Ideal von Volkspoesie tiefergehend sein, mag Schillers Rezension Bürger Idealität absprechen, die neue Gattung der Lyrik geht von Bürger aus und besiegt in der Folge Schillers Bildungsideal. Bürgers selbstherrliche Prophezeihung ist wahr geworden: ´Alle, die nach mir Balladen machen, werden meine ungezweifelten Vasallen sein und ihren Ton von mir zu Lehen tragen´ [...] Für Bürger hatte der Bänkelsang zum mindesten eine gleich große Bedeutung wie das Volkslied, dessen Definition in dem heute gebräuchlichen engeren Sinne Bürger nicht kennen konnte. Der Bänkelsang war für ihn ebenso Volkspoesie wie das echte Volkslied. Selbst Herder nahm vieles in seine Volksliedersammlung auf, was nicht hineingehört.

[S. 22] In der ´Lenore´ findet das Grausige durch die Steigerung der Spannung seine größte künstlerische Vollendung. Dem Bänkelsänger ist das nie auch nur annähernd in gleichem Maße gelungen. Hier wächst Bürger so gewaltig über sein Vorbild hinaus, daß man sich des künstlichen Pathos, der Effekthascherei kaum bewußt wird. Und dennoch ist die ´Lenore´ moritatenhaft aufgeputscht mit allen erdenklichen Mitteln, die Bürger aufbringen konnte.

[S. 24] Der ´Wilde Jäger´ und des ´Pfarrers Tochter von Taubenhain´, die beiden Balladen, die der ´Lenore´ noch am nächsten kommen, nehmen einen höheren Flug. Doch ist auch hier bei der Behandlung des moritatenhaften Stoffes
die Vorliebe für die Ausmalung des Schrecklichen zu spüren.

[S. 26] Das nächstwichtige Charakteristikum der Ballade, die Technik, die Dinge in grellen Gegensatz nebeneinanderzustellen, geht ebenfalls auf Bürger zurück. Hierin unterscheidet sich die Kunstballade auch von der deutschen Volksballade, die im Gegensatz zur englischen nicht dramatisch ist. Im Kontrast erscheinen die Dinge größer, ihre Wirkung ist eindringlicher. Im Bänkelsang ist dieser Zug stark ausgeprägt. Durch ungeschickte Handhabung wirkt er dort aber oft komisch, und das hat die parodistischen Bänkelsängermoritaten ins Leben gerufen. Ganz bewußt stellt der Bänkelsänger vor allem diesen Gegensatz heraus: Auf der einen Seite das fürchterliche, Entsetzen schaffende Geschehen, Mord oder Unglücksfall, auf der anderen die ahnungslose Unbekümmertheit des betroffenen Opfers und das darauf folgende klägliche Gebaren und Jammern. Bei Bürger ist dafür ´Lenardo und Blandine´ typisch. Dem Liebesglück des jungen Paares wird ein jähes, schreckliches Ende bereitet. Zu feineren Wirkungen kommt Bürger in der ´Lenore´. Der Totenritt läßt den gespannten Leser und Hörer nur unbestimmt ahnen, daß etwas Ungewöhnliches im Gange ist. Die Katastrophe tritt jäh und mit vernichtender Wirkung ein. Schärfste Prägnanz im Ausdruck tritt an die Stelle bänkelsängerischer Weitschweifigkeit, in die Bürger in seinen späteren Balladen zurückfällt. Im ´Wilden Jäger´ steht die plötzlich eintretende lähmende Stille und Starre in wirksamem Gegensatz zu dem Lärmen und Hussah der Jagd.

[S. 27] In weitem Maße hat sich Bürger den Ausruferstil des BänkeIsängers zu eigen gemacht. Dieser lockte damit sein Publikum an und zwang es zur Aufmerksamkeit. Mit bildlicher Anschaulichkeit und heftiger Bewegtheit deklamierte er seine ´Geschichte´. Er zeigte sich selbst von ihr ergriffen, und seine Sprache war ganz darauf zugeschnitten. Häufige direkte Rede, Ausrufe der handelnden Personen, Zwischenbemerkungen des Vortragenden, Übersteigerung des Einzelausdrucks sind die hervorstechendsten Merkmale der Bänkelsängersprache. Bürgers lebhaftes Temperament mußte sich all diesem gegenüber naturgemäß sehr aufnahmebereit zeigen.Wurde doch dadurch der dämonische Charakter der Ballade verstärkt.

[S. 29] Weiter oben wurde bereits gesagt, daß Bürger dem grausigen Effekt zuliebe sich einer absichtlich groben, ja gröbsten Wortwahl bedient. Hier ist wieder einmal die Beobachtung zu machen: Was beim Bänkelsänger Unvermögen ist, tut Bürger mit Fleiß in künstlerischer Absicht. Leider fehlte ihm die kritische Einstellung, um sich solchen Einflüssen zu entziehen. Durch manche unpassende Wendung sind viele seiner Gedichte unmöglich geworden. ´Lenardo und Blandine´ gibt hierin wieder das Musterbeispiel ab: [...]

[S. 30] Die Ballade, wie sie Bürger geschaffen hat, machte auf ihrem weiteren Wege einen starken Läuterungsprozeß durch; namentlich sind jene groben, allzu bänkelsängerischen Elemente getilgt worden. Ihre Sprache ist Kunstsprache, und Symmetrie des Aufbaus, knappe und markante Ausdrucksweise sind statt bänkelsängerischer Breite oberstes Prinzip geworden. Für Goethe war nicht mehr die Bänkelsängermoritat, sondern die edlere Form der Volksballade vorbildlich. Indessen ist der Ballade der charakteristische Ton, den sie von Bürger durch die Einwirkung des Bänkelsangs erhielt, bis auf den heutigen Tag eigen geblieben.
   Es soll hier Schiller nicht unerwähnt bleiben, der in den Balladen seiner Sturm-und Drangperiode mit ihrer schwülstigen und überschwänglichen Leidenschaftlichkeit der Bürgerschen Manier noch recht nahe kommt. Ganz bezeichnend dürfte es sein, daß der ´Ritter Toggenburg´ auf den Märkten als Moritat abgesungen worden ist. Noch eine spätere Ballade, ´Der Gang nach dem Eisenhammer´ ist voll aufgebauschter Schauerlichkeit und übertriebenen Gefühls. Der ´Kindsmörderin´ liegt nicht die Volksballade, sondern wahrscheinlich eine Moritat zugrunde. Sie ist ganz im Stil jener Hinrichtungslieder gehalten, in denen der Verbrecher von seiner Tat erzählt, seine Reue kundtut und das umstehende Volk ermahnt, sich nicht zu ähnlichen Fehltritten hinreißen zu lassen”

Die Dissertation in der ONLINE-BIBLIOTHEK

 

1933

Zirkus Sarrasani. In: Sächsische Dorfzeitung und Elbgaupresse 13.4.

1933 Sächsische Dorfzeitung und Elbgaupresse 13 04

 

1934

Zobeltitz, Fedor von. Ich hab so gern gelebt. Berlin.

“[S. 16] Die Großmutter sang uns Kindern wunderliche Lieder aus vergangener Zeit vor: ´Knapp´, sattle mir mein Dänenroß´oder das Rinaldo-Lied aus dem Räuberroman von Vulpius oder auch französische, die wir nicht verstanden, die aber immer sehr süß klangen.“
   [Zobeltitz wurde 1857 geboren]

 

1935

Abendroth, Walter. Hans Pfitzner.

“[S. 283] Ein erster Text, den Mahner-Mons eines Tages in Vorschlag brachte und sogar schon im Entwurf zu Papier gebracht hatte, fand Pfitzners Beifall nicht, obgleich alle Freunde davon angetan waren und ihm rieten, ihn zu komponieren. Es war eben noch nicht das, was der Vision entsprochen hätte, die in der Seele des Musikers aufdämmerte. Seither aber wurde zwischen den beiden immer wieder die Frage einer Operndichtung erwogen. Längere Zeit hindurch beschäftigte den Meister Bürgers ´Königin von Golkonde´, jenes höchst merkwürdige Gedicht, worin der Erzähler dem Mädchen, das als Bauerntochter durch ihn als ersten mit der Liebe der Geschlechter bekannt wird, nach Jahren in Paris als Weltdame, wiederum nach Jahren in Ostindien als Königin des Landes Golkonde, zuletzt wiederum in einem öden Tal als altem, ganz verarmten Mütterchen begegnet. Trotz allen Trennungen der beiderseitigen Lebenswege sind sie im Grund einander treu, für einander bestimmt geblieben; in ihrem Königreich hat die Frau eine künstliche Landschaft nach genauen Vorbild des Hirtentales ihrer ersten Liebe herrichten lassen; hier wie vordem in Paris feiern beide ihr Wiedersehen mit einem Fest der Leidenschaft. Die Alte aber hat ihm auch in ihrem letzten Zufluchtsort einen Ruheplatz bereitgehalten, in der Gewißheit, daß er ihn finden wird. ´Entfernter von der Erde und näher Gottes Himmel´ verbringen sie ihre späten Tage hinfort in abgeklärter Freundschaft und gemeinsamer Arbeit.
   ´Den ganzen Tag sucht´ ich mein Glück vergebens;
   Ich fand es erst am Abend meines Lebens.´
So sehr diese Dichtung und ihre mögliche Dramatisierung Pfitzner bewegte, so wenig sagte sie den Freunden zu, denen er davon Mitteilung machte. Dieser Mangel an einem aufmunternden Echo brachte dann allmählich auch den Meister wieder von dem Gedanken ab.”

 

1935

Meissinger, Karl August. Schillers Lebenskampf um Freiheit. In: Helena. Schillers Anteil am Faust. Frankfurt/Main  (Sammlung Klaus Damert)

“[S. 46] Der junge Schiller ist ein Moralist. Noch im Carlos ist es mit Händen zu greifen, wie er mit den rollenden Tiraden seines Lieblings Posa - der dann allen liberalen Parlamentsrednern zum Muster gedient hat sich selbst das Fest der eigenen moralischen Rhetorik gibt.
      Seit Jahren schon arbeitet er an der Ausmerzung dieses Fehlers. Es ist ein merkwürdiger Anblick, wie sich Schiller der großen Erleuchtung entgegenbewegt, ohne es noch zu wissen. Schon die Wendung zur Geschichte entspringt aus dem Gefühl, daß man sich von dem persönlichen Interesse am Stoff freimachen müsse.
      Und noch kurz vor dem Zusammenbruch hatte er ein sehr lehrreiches Erlebnis gehabt.
       In einer großen anonymen Kritik hatte sich Schiller mit Gottfried August Bürger auseinandergesetzt. Er hatte den Anspruch Bürgers auf den Ehrennamen eines Volksdichters geprüft und nach einer glänzenden Untersuchung dieses Begriffs dem Dichter der ´Lenore´ diesen Titel abgesprochen. Dem Gesamtwerk Bürgers, behauptete er, fehle die Haltung, die einem Volksdichter zieme.
       Bürgers Entgegnung atmete tiefe persönliche Verletztheit, und Schiller hatte immer noch anonym mit großer und überlegener Schärfe repliziert. Kurz darauf starb Bürger, einsam und verbittert. Seine letzten Jahre waren nicht ohne seine persönliche Schuld tief verwüstet.
       Schillers Vorwurf kennzeichnete die Haltungslosigkeit der späteren Arbeiten Bürgers vollkommen richtig. Und doch wünschte er nach Bürgers traurigem Ende, diese Kritik nicht geschriehen zu haben. Er sah, daß er mit dem Urteil über Bürgers Gedichte das Urteil über den Menschen Bürger vermischt hatte. Die ethischen und die ästhetischen Kategorien waren ihm auf eine Weise, die er sich nicht verzeihen konnte, ineinandergeflossen. Und diese Vermischung hatte der Kritik eine sehr ungute Note gegeben. In ganz Deutschland wurde über Bürgers letztes groteskes Eheunglück (nach zwei früheren sehr tragischen Ehen) eifrig geklatscht, und Schiller hatte Leute auf seiner Seite, in deren Gesellschaft ihm nicht wohl wurde.
     Wie unkenntlich fein, für des armen Bürger schwache Dialektik gar nicht zu fassen und gerade darum doppelt gehässig das Gift des Moralismus in den beiden Aufsätzen verteilt war, zeigte unter anderem die sogleich auftauchende Vermutung, daß kein Geringerer als Goethe der Verfasser sei, ja Goethe selbst äußerte sogar, er wünschte wohl, diese Kritik geschrieben zu haben. Gleich noch eine Niederlage mehr für Bürger, der sich von Gott und der Welt verlassen fühlen mußte. Ein schreckliches Beispiel für die Grausamkeit der Welt, wenn jemand das Steuer verloren hat!
       Warum aber regte sich bei Schiller hintennach das Gewissen? Der große Grenzscheider Kant hatte ihm klargemacht, daß das Schöne und die Kunst einen Bereich eigener Gesetzlichkeit ausmachen, wo weder der Moral noch dem Intellekt ein richterlicher Eingriff zustehe! Der Fall Bürger war ein Musterbeispiel, wohin Unreinlichkeit in der Grenzziehung führen konnte.“

Meissingers Beitrag in der ONLINE-BIBLIOTHEK

 

1936

Leonhardt, Elsbeth. Die mysteriose Ballade in ihren Anfängen. Dissertation Westfälische Wilhelms-Universität Münster.

“[S. 30] ´Gottlob! Des Menschen Herz ist stärker als seine Vernunft. Trotz allen Philosophemen eures Kopfes bangt es euch die Herzgrube, durchschauert es euch alle Gebeine, wenn ihr um Mitternacht auf einem Gottesacker wandelt´ [Herder]
   Mit diesen Worten ist die grundlegend neue Haltung des Sturm-und Drangmenschen gekennzeichnet - damit sind die Voraussetzungen für die Entstehung mysterioser Balladenkunst geschaffen. Man verspottet die dämonisch düstere Geisterstunde nicht mehr, die auch in der Romanze eine so große Rolle spielte; man versucht keine Kompromißlösungen mehr und jede Verlegenheit dem mysteriosen Stoff gegenüber ist geschwunden. Man ist gläubig geöffnet allen Mächten in Seele und Natur, all dem ´zwischen Himmel und Erde, wovon sich unsere Schulweisheit nichts träumen läßt´. Der Verstand ist nicht mehr zuständig in diesen Gebieten der nächtlichen Zwischenbereiche, die man nicht etwa symbolisch aufgefaßt wissen will, abstrakt, gleichnishaft - nein, die Realität· dieser neu entdeckten Welt wilI man so lebendig machen, daß ´es euch die Herzgrube bangt und die Gebeine durchschauert´.
     Die zeitgeschichtliche Bedeutung der Lenore ist vor allem in diesem Sinne zu verstehen - sie bezeichnet die bewußte Abkehr von der Welt der Aufklärung. Das leidenschaftliche Bekenntnis zum Ungewöhnlichen wird sichtbar gemacht in jenem Element des mysteriosen Tremendum, das mit unerbittlichem Ernst im Totenritt zur Erscheinung gebracht wird. Wenn es heute schwer fällt, gerade diese Seite der Ballade ganz rein auf sich wirken zu lassen, so liegt das an der Zeitbedingtheit der Sprachmittel, die Bürger zur Verfügung standen, und an seiner besonderen Zwischenstellung an der Scheide zweier Generationen, die wir an anderer Stelle noch näher kennen lernen werden. - Trotz alledem : Den Willen, mysterioses Geschehen zu veranschaulichen, die sinnliche Fülle des Erlebnishaften, den Schauer des Tremendum und Fascinans spüren wir auch heute noch nach 150 Jahren.’

[S. 33] Jedenfalls ist sicher, daß auch bei Bürger das Erbe der Aufklärung immer wieder durchbricht; in irgend einer Form hat es alle Stürmer und Dränger überkommen, sie mochten sich mit ihren Bewußtseinskräften noch so sehr dagegen wehren. Der innere Unterschied zur Vergangenheit auch in dieser scheinbar romanzenhaften Haltung ist der, daß es Bürger bitter ernst war, wenn er Ton und Darstellung seiner Dichtung den Charakter des Derb-Realistischen, möglichst Sinnfälligen und Aufreizenden verlieh, während seine geistigen Vorfahren, die Romanzenverfasser, mit kühler Miene diese Mittel handhabten, um zu spielen, zu unterhalten, zu ironisieren. -
   Neben diesem ererbten romanzenhaften Zug in Bürgers Ballade ist nun der stärkere balladische Strom zu untersuchen, der von Bürger ab etwas Neues ist in deutscher Dichtung überhaupt. Wenn hier auch wesentlich Bürgers schöpferische Leistung zu sehen ist, so darf man die Wirkung altenglischer Balladenkunst doch nicht übersehen, die Bürger zweifellos neue Wege gewiesen hat. Ihr Einfluß ist allerdings bei weitem geringer als man früher angenommen hat. Es ist erwiesen, daß Percys Reliques erst 1777 in seine Hände kam, also vier Jahre nach der Entstehung der Lenore. Bis 1773 hatte er nur einzelne englische Balladen, wie sie in Musenalmanachen und in Herders Briefwechsel über Ossian zu finden waren, kennen gelernt. Diese werden allerdings ihre Wirkung auf Bürger nicht verfehlt haben.

[S. 34] Wie anders [gegenüber ´Sweet William's Ghost´] dagegen Lenore! Sie bringt eine absolut neuartige individuelle Motiviernng der Handlung, die damit aus ihrer Isolierung im chaotischen Zwischenbereich in den größeren Zusammenhang kosmischer Weltordnung rückt; hier zeigt sich der numinose Einschlag, den Bathge betont, das kosmische Walten einer höheren Einheit.
       Mit dieser typisch deutschen Ausweitung und Vertiefung hat die Lenore als Ballade verloren, mag sie auch als Dichtung, die Welt zur Erscheinung bringt, gewonnen haben. Die neueroberte Vielschichtigkeit zerstört die strenge Einfachheit und Einheitlichkeit in Stimmung und Linienführung, welche alle englischen und nordischen Balladen auszeichnet.

[S. 37] In diesen Zusammenhang gehört aueh die Schlußstrophe (32), die den Auslegern der Lenore stets besondere Schwierigkeiten bereitete. Aus allem bisher Gesagten geht schon hervor, daß wir Str. 32 keinesfalls ausschließlich als ´theologisches Moralzöpfchen des 18. Jhdts.´' auffassen dürfen, wie es noch Paustiau 1933 tut. Die Beziehungen zum Bänkelsang sind natürlich offensichtlich, konnte Bürger doch auf gar nichts anderes zurückgreifen, wenn er sich an deutscher Dichtung ausrichten wollte. Die moralistische Tendenz der letzten Strophe stammt ohne Zweifel daher, aber das Wesentliche liegt ja gerade nicht in der Moral, sondern darin, daß Bürger wieder Dimensionen sieht, auf die der Ausblick vorher tatsächlich ´verrannt´ war. - Und seIbst, wenn man nur die Moral als solche nimmt, so geht auch sie weit über das hinaus, was der Bänkelsang leistete und anstrehte, mag uns heute der Zugang wegen der zeitgebundenen Form noch so sehr erschwert sein. - Äußere wie innere Handlung der Ballade gipfelt ja in den beiden Schlufzeilen:
  Des Leibes hist du ledig;
  Gott sey der Seele gnädig.
Ich sehe keinen Grund dafür anzunehmen, daß Bürger den ganzen Geisterritt mitsamt Leichenzug und Hochgericht ernst gemeint, die Schlußstrophe jedoch als Parodie gedacht hahen soll. Der Sinn der ganzen Dichtung würde damit vollkommen verkehrt ja aufgehoben. Der Grund für eine solche Ausdeutung liegt nicht in der Sache selbst, sondern lediglich in der, notwendigerweise vom Zeitgeist befangenen Betrachtungsweise der früheren Literarhistoriker.

[S. 39] Bürger verzichtet keineswegs auf individuelle Charakterisierung und auf naturalistische Wirkung. Interjektionen und Verben, die Geräusche und Bewegungen darstellen, werden gehäuft. Bürger will, daß sein Publikum hören, sehen, miterlehen soll. Mit dem subjektiven Willensaufwand des Sturm· und Drangmenschen setzt er berechnend Schwung, Tempo, Leidenschaft als Mittel ein, um seine Hörer fortzureißen.
   Oberstes Gesetz ist für die ae. Ball. wie für Bürger die ´Treue zum Ding´ (Kayser), die das konstitutive Element für die Ballade schlechthin ist. Beide streben nur auf vollkommen verschiedene Weise zur Verwirklichung dieses Zieles: die ae. Ball. durch gedämpfte Verhaltenheit nnd betonte Distanzierung von der alltäglichen Wirklichkeit - Bürger durch möglichste Lebensnähe und sinnlich greifbare Verdeutlichung. Besonders der Ritt ist ein Meisterstück impressionistisch-naturalistischer Darstellung; in unerhörter Verdichtung ballen sich Tremendum und Fascinosum zusammen zum drohenden, unüberwindlichen Perniciosum. das wirklich ein Mirum ist, aus den Erlebnisbereichen des Natürlichen vollständig herausfallend.

[S. 45] Herder bürgert durch seine theoretischen Schriften und seine Übersetzungen die nordische und englische Ballade auf deutschem Boden ein. Bürger schafft die erste deutsche Kunstballade. Sein Werk ist charakterisiert durch eine eigentümliche Mischung heterogener Elemente. Auf der einen Seite zehrt Bürger von dem Erbe der aufklärerischen Romanzenverfasser, auf der anderen Seite ist er in starkem Maße geöffnet für die Töne des Volksliedes. -- Auffallend ist das ausgesprochen kunsttheoretische Interesse, um dessen Hauptpunkte ´Naturwahrheit und Popularität´ Bürger einen heftigen Kampf führte. Durch die übertriebene Anwendung dieser Begriffe wurde jedoch die rein dichterische Gestaltung seines Werkes eher gehemmt als gefördert; andererseits trug sie dazu bei, einen vollkommen neuen Balladenstil zu schaffen. der von dem der ae. Ball. beträchtlich abweicht, und für die Zukunft der deutschen Ballade ganz neue Wege weist.

[S. 77] Das neue Lebensgefühl des Sturm und Drang schafft sich eine eigene Sprachform, deren Eigenart wir in der Lenore kennen lernten. Bürger versuchte, das neu entdeckte Reich des Mysteriosen lebendig zu machen, und um dieses bis dahin unerhörte Ziel zu verwirklichen, das in der Romanze von Typ III schon vorgeahnt wurde, greift er zu ganz neuartigen Sprachmitteln.
   Neu ist vor allem die feinfühlige und konsequente Durchbildung der Lautschicht, deren Klangreichtum Mysterioses unmittelbar verdeutlichen will. Die Stimmungsqualität der Vokale und Konsonanten ist zum Teil bis an die Grenze des Möglichen ausgewertet.
  Neu ist ferner gegenüber der Romanzensprache Gleims der ausdrucksvolle Verbalstil, der durch sein reiches intransitives Element eine emotionale Bewegtheit und sinnlich-klangliche Anschaulichkeit erhält, wie sie in der Sprache der Aufklärungsdichtung nicht zu finden ist.
  Handlung ist das Lebenselement der Ballade - die Art der Handlung ist für Bürger als Sturm- und Drangdichter charakteristisch. Das äußere Geschehen, das sich großenteils im nächstlichen Zwischenreich des Mysteriosen abspielt, gibt das tragende Gerüst für die Lenore ab; die innere Handlung aher, wie sie in den drei Gebärden Lenorens zum Ausdruck kommt, und die damit die eigentliche Voraussetzung für das äußere Geschehen bildet, enthält den tieferen Sinn der Ballade. Diese innere Handlung ist bestimmt von der Weltsicht des Sturm-und Drangmenschen, der die elementaren Grundkräfte des Lebens wieder entdeckt hat und die von ihnen bestimmte menschliche Haltung in den Mittelpunkt des Interesses rückt; aber Bürger bleibt in diesen magischen und vitalen Elementarbereichen nicht stecken - in der nominalen Schicht seiner Sprache leuchtet eine Welt höherer Ordnung auf, welche die natürlichen und magischen Bereiche überwölbt. Ihre eigentümlich doppeIgesichtige Ausprägung verbindet die kosmisch-astronomische Weltbetrachtung seiner Zeit mit überkommenen theologischen Restbeständen, die jedoch eine so ernste Darstellung bei Bürger finden, daß sie damit aus dem Sturm und Drang wie aus der Aufklärung herausfällt.”

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1936

Kayser, Wolfgang. Die Ausbildung der Kunstballade. In: Geschichte der deutschen Ballade.

“[S. 87] Das Ergebnis, Hölty stellt mit seinen beiden Gedichten den Beginn der deutschen Kunstballade dar, kann erst als gesichert gelten, wenn Bürgers ´Lenore´ und seine anderen Balladen als wesensgleich erkannt sind.

[S. 88] Zweimal bezeugt Bürger also, daß die ´Lenore´ im Wettkampf mit Hölty entsteht. Ausdrücklich sagt er hier, daß sein Gedicht von der Art der Höltyschen ist. Deutlicher kann nicht ausgedrückt werden, daß Hölty der Begründer der ernsten Ballade in Deutschland ist.
  Wenn das allmählich und schließlich vollständig vergessen worden ist, so liegt das einmal an der künstlerischen Überlegenheit der ´Lenore´, zum zweiten daran, daß den übrigen Zeitgenossen Höltys ´Adelstan und Röschen´ erst mit der ´Lenore´ zusammen bekannt wurde - im Göttinger Musenalmanach auf 1774, ´Die Nonne´ sogar erst im nächsten Jahre -, und schließlich an der Art, wie Bürger sein Gedicht als Beginn einer neuen Dichtung pries.

[S. 89] Darin wird man mit Sternitzke völlig einig sein, daß bei Bürger ´keine folgerichtige Entwicklung von der Romanze zur Ballade, sondern ein Nebeneinander beider Gattungen zu beobachten ist´. Er schreibt auch nach der ´Lenore´, gerade dann, wenn er den Bänkelsang als ´vorbildliches Muster´ für Bürger hinstellt, wenn er Bürgers Balladen als typisch bänkelsängerisch auffaßt und die Haltung in Bürgers Balladen mit der Haltung des ernst aufgefaßten Bänkelsängers identifiziert. Zum ersten hat sich Bürger nirgends über den Bänkelsang geäußert, dieses Argument wiegt schon etwas bei einem Dichter, der sich über seine Kunst so häufig ausgesprochen hat. Dann aber ist der Ton in Bürgers Balladen ein ganz anderer als der des Bänkelsangs. Daran ändern einzelne Übereinstimmungen nichts.

[S. 92] Man spürt Bürgers ehrliche Begeisterung für das neue Ideal. Und das ist nun wohl der tiefgreifendste Unterschied zu Hölty. Der hatte eben doch nur bewußt eine Haltung eingenommen, die des alten Balladensängers. Ihn reizte das gewiß, aber solche Gedichte waren für ihn weder sein Ideal, noch sollten sie das der Dichtung überhaupt sein. Er hat die Geschichte der Kunstballade begonnen, das ist seine historische Leistung, persönlich war er dieses Zwanges der Balladenhaltung bald überdrüssig. Für Bürger aber ist es kein Zwang mehr, er fühlt sich auch nicht als Sänger alter Balladen. Popularität wird ihm nicht nur das Kennzeichen dieser Gattung, sondern aller wahren Dichtung, wie er in dem ´Herzensausguß über Volkspoesie´ verkündet. Die größten Werke der Weltliteratur sind so groß, weil sie Volkspoesie sind.

[S. 94] Mit solcher weitgetriebenen Popularität erweiterte Bürger den Balladenstil Höltys. Das ist seine Leistung, und darin liegt auch zu einem guten Teil die künstlerische Überlegenheit der ´Lenore´ begründet. Denn wenn dieses Gedicht auch nicht die erste deutsche Kunstballade ist, so ist sie doch das Muster für die Zeitgenossen geworden. [...] Die Aufnahme der ´Lenore´ bei den Zeitgenossen war durchaus geteilt. Offenes Entsetzen herrschte natürlich in den orthodoxen Kreisen, soweit sie literarisch interessiert waren. Auf den Beifall der ´hirnlosen´ Mittelklasse hatte Bürger von Anfang an nicht gerechnet. Er wollte den Beifall der ´Dame am Putztisch´ und des ´Mädchens am Spinnrocken´, eine bei ihm immer wiederkehrende Formel.

[S. 95] Es war ein im ganzen gesehen ziemlich kleiner Kreis von Angehörigen der jungen Generation, der von der ´Lenore´ begeistert war, freilich gehörten dazu gerade die Dichter, die unsere Literatur in der nächsten Zeit weiter und aufwärts führten.

[S. 97, Anm. 25] Eine andere Gruppe von Gedichten steht ganz außerhalb der bisherigen Balladenart: Die Weiber von Weinsberg, der Kaiser und der Abt, Frau Schnips, das Lied von Treue. Das Humorvolle, Schnurrige, Satirische verbindet sie, und alle vier werden nicht um ihrer selbst willen erzählt, sondern um der ironischen Anspielungen willen. Fast immer handelt es sich um die Beschämung der eingebildeten Höherstehenden durch Niederstehende: der mutterwitzige Schäfer beschämt den Abt und damit die Scheingelehrsamkeit, die urwüchsige Frau Schnips die Heiligen (Bürger ist noch gröber als Percy) und damit die Scheinheiligkeit, die treuen Hunde das Liebchen und damit die Treulosigkeit der Frauen. Der Gattung nach sind es scherzhafte Erzählungen, in denen Bürger Mittel des Balladenstiles verwendet.

[S. 98] Die neue Gattung bzw. ihre Unterart ist dann von Bürger aufgenommen und vollendet worden. Streng genommen ist sie erst dadurch dazu geworden, denn nur bei einer Mehrheit von gleichartigen Werken hat es Sinn, von Gattung zu sprechen. [...] Für die Aufklärungszeit gab es keine Gespenster, der Glaube daran war lächerlich, die Dichtung spiegelt das. In den Balladen wurden die Geistererscheinungen ernst genommen; nicht nur als rein literarisches Motiv, sondern zumindest als dichterisches Symbol für Irreelles, oft als mehr.

[S. 99] So werden die Balladen, in denen die Irrationalität, die Leidenschaft, die wahre Natur des Menschen (und nun auch der Frau) dargestellt wurden, - in der Weltordnung der Ballade sind das die schaffenden Kräfte - von dem Geist der neuen Generation getragen. Es ist nicht nötig, motivische Verwandschaften mit anderen Dichtungen der Zeit aufzuweisen. Nur eines noch: in der ´Nonne´ wie in ´Lenardo und Blandine´ war die Leidenschaft bis zum Wahnsinn gesteigert worden. Im Wahnsinn enthüllte sich die Irrationalität der menschlichen Natur am reinsten. Das mit Grauen gemischte Interesse hat die Stürmer und Dränger immer wieder zur Gestaltung dieses Motivs geführt, und bei manchem ist es nicht literarisches Motiv geblieben, sondern eigenes Schicksal geworden.”

 

1936

Schering, Arnold. Beethoven und die Dichtung. In: Neue deutsche Forschungen, Abt. Musikwissenschaft Bd. 3 1936

“[S. 507] DIE KLAVIERSONATE OP. 101, A-DUR
Zu dieser Sonate, die nach Schindlers Mitteilung die einzige war, die zu Lebzeiten ihres Komponisten öffentlich vorgetragen worden ist (Februar 1816), hat Beethoven selbst einen poetischen Hinweis gegeben. Hiernach sollten die vier Sätze überschrieben gedacht werden:
   1. Träumerische Gefühle.
   2. Aufforderung zur Tat.
   3. Rückkehr der träumerischen Gefühle.
   4. Die Tat.
´Ob es ihm im Ernst so gemeint war, wollte ich nicht behaupten´, fügt Schindler hinzu. Offenbar fühlte er, daß Beethoven damit nicht das Letzte gesagt und gemeint habe. Lenz witterte sogar Schalkhaftigkeit oder Ironie. Hierfür liegt kein Grund vor. Richtig wird sein, daß wir abermals einer absichtlichen Verschleierung des poetischen Programms gegenüberstehen, indem Beethoven zwar dessen Grundwesenheiten in Kennworte zusammenfaßte, die stofflich gebundene Gegenständlichkeit jedoch offen ließ. Es ist derselbe Fall wie bei den Überschriften der Faustquartette op. 132 und 135. Ich sehe in dieser Sonate ein kaum zu verkennendes musikalisches Spiegelbild der Ballade ´Lenore” von Gottfr. August Bürger. [...] Bis hin zu Liszt und Joach. Raff (1872) schlägt die aufwühlende Kraft des Gedichts. Man müßte es fast ein Wunder heißen, wenn ihr nicht auch Beethovens Phantasie in irgendeinem Augenblick seiner Schaffensbegeisterung unterlegen wäre. [...] An einer Komposition für Gesang konnte ihm nichts liegen. Seine immer nur auf den geistigen Kern eines Erlebnisses vorstoßende Natur hätte an den 32 Strophen des Gedichts mit ihren mancherlei dichterisch bedingten Wiederholuugen zu viel Widerstand gefunden. So schritt er, wie es uns längst als selbstverständlich erscheinen wird, zu einer rein instrumentalen Verkörperung des Inhalts an der Hand ausgewählter Strophen.
  1.Satz: Allegretto, ma non troppo. Lenores Traumvision und Sehnsucht (nach Str. 1 des Gedichts).
  2.Satz: Vivace alla marcia. Marsch des heimkehrenden Heeres und Lenores Unruhe. -(Trio) Enttäuschung, sinnverwirrender 
        Schmerz (nach Str. 2--4).
  3.Satz: Adagio, ma non troppo, con affetto. Lenores Klage und Verzweiflung (nach Str. 5 ff.).
  4.Satz: Tempo del primo pezzo. Erwartung des Geliebten (nach Str. 13). -Allegro. Zwiegespräch mit der Erscheinung und  
        Geisterritt (Str. 14 ff.)

“[S. 516 Vierter Satz] Das Folgende erläutere ich wieder durch eine Gegenüberstellung der thematischen Gliederung und ihrer dichterischen Inhalte.

Takte

Musik.

Dichtung.

21-28

Anmutiges Motiv (Lenore-Motiv) als Antwort des Mädchens; in 25-27 Wiederkehr der schluchzenden Halbtonmotive aus dem Trio des alla marcia-Satzes.

(14) ´Ach Wilhelm! Du? So spät bei Nacht? Geweinet 
    hab' ich und gewacht; Ach! großes Leid erlitten!´

29-52

 Antwort des Reiters mit den Sturmmotiven (29-32); kanonisch aufwirbelnde Sechzehntel-figuren (33-35); Fortsetzung des kanonischen Spiels in den Mittelstimmen (37ff.); in der Oberstimme entwickelt sich eine stark vorwärts drängende Melodie (39ff.), die zu einem Schluß
mit herausfordernd kühnen, gewaltsam abbrechenden Achteln in Gegenbewegung drängt (-52; ´ich will Dich mit mir nehmen´).

(15) ´Wir satteln nur um Mitternacht.
    Weit ritt ich her von Böhmen:
    Ich habe spät mich aufgemacht Und will Dich mit 
    mir nehmen!´ 

53-85

Nach einer Pause Antwort des Mädchens (p, dolce); etwas verwundert. Die Phrase 53-59 wird vom Hörer als im '/4-Takt stehend und somit gegenüber dem Vorhergehenden als ´ruhig´ oder ´gefaßt´ empfunden. Freudige Wiederholung des Motivs in A-dur mit scherzendem Anhang (59 bis 62; Hornquinten als Symbol naiver Freude!)

15) ´Ach, Wilhelm! erst herein geschwind!
    Den Hagedorn durchsaust der Wind!´


                                
 

 

 

 



 

 

 

 

 

 

 



[S. 520] Der hohe Zeugniswert der hiermit beschlossenen Deutung liegt, wie mir scheinen will, vor allem darin, daß sie den Folgecharakter der einzelnen Sätze klar herausstellt und diesen selbst einen Sinn gibt. Erst jetzt wird verständlich, warum die Sonate mit einem kurzen lyrischen Traumbild beginnt und mit einem breit ausgeführten katastrophalen Ereignis von beinahe elementarer Wucht schließt. Eine ´Liebessonate´, wie Lenz will, in der Beethoven irgendwem sein Herz ausgeschüttet, ist sie ganz gewiß nicht, und wenn er aus dem Finale militärische Töne (!) heraushörte und sie sich ´aus der Widmung an die Frau eines Militärs´ (!) erklärte, so war er gründlich auf dem Holzwege. Riemann erkennt wenigstens ihren auffallend romantischen Charakter an, dem Schumann und Brahms viel verdanken, läßt sich aber auf eine Analyse nicht ein. Mit den üblichen Redensarten vom Humoristen Beethoven oder vom Kämpfer Beethoven, der erst allmählich -seltsamerweise immer erst in den Finales! seine Gemütsruhe wiederfindet, ist ihr vollends nicht beizukommen. Wir werden uns bequemen müssen, sie als Lenore-Sonate in die Literatur eingehen zu lassen und unter die Gruppe der balladesken Klaviersonaten Beethovens einzureihen.”

 

1936

Rose, Ernst. Geschichte der deutschen Dichtung auf kulturgeschichtlicher Grundlage. New York, (Sammlung Helmut Scherer)

“[S. 168] Zu nennen ist vor allem der große Balladendichter Gottfried August Bürger. Auch im Leben verachtete er unablässig die Konventionen, seine Verhältnisse wurden dadurch innerlich und äußerlich immer verwickelter, und er starb schließlich als ein gebrochener Mann. Aber derselbe Naturalismus, der Bürger als Mensch zugrunde richtete, machte ihn als Dichter unsterblich. Der geheimnisvolle Zauber der wahren Natur wurde in seinen Balladen wieder lebendig; in seinem ´Wilden Jäger´tobt der Sturm selbst, in seinem Kommerslied ´Ich will einst, bei Ja und Nein! vor dem Zapfen sterben´ lebt eine tiefe Leidenschaft, die bei den Philistern Entsetzen erregte; und in seiner 1774 erschienenen ´Leonore´ erweckt er Spukgestalten zu einer grauenhaften Lebendigkeit; sie alleine würde genügen, ihren Dichter für immer berühmt zu machen. “

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1936

Blenkinsop, Edward Stanley. Bürger’s Originality. Oxford (Sammlung Klaus Damert)

“[p. XI] INTRODUCTION
IN an article written in 1894, the centenary of Bürger's death, Leo Berg1 drew attention to the predominating influence of Schiller on the traditional criticisms of Bürger's poems.

   Jeder Schulknabe kennt z.B. die Schiller'sche Rezension2 über die Bürger'sche Gedichtausgabe von 1789, während die herrliche, durchaus kritische Schrift August Wilhelm Schlegels über Bürger3 nur in exklusiven Kreisen gekannt und in noch wenigern gewürdigt wird.

   At the end of his article Berg4 wrote :

Hätte Bürger heute wirklich eine Gemeinde von Freunden die Willens wäre, ihn aus den totbringenden Umarmungen der Schiller'schen Kritik zu befreien, dann hätte man längst eine billige volkstümliche Ausgabe herstellen lassen, der der Aufsatz von Schlegel vorgesetzt wäre. Nur so könnte allmählich ein wirksames Gegengewicht hergestellt und Deutschland einem seiner besten Sänger wieder gerecht werden.

   In the critical studies of Bürger's poetry written in the twentieth century, Schlegel's conclusions have been generally accepted. But the effect on Bürger's reputation as a poet has been far less favourable than Berg apparently anticipated. Bürger's reputation still rests on one ballad, Lenore.
   The purpose of this book is to suggest that Schlegel's Essay, in spite of its brilliance, is not a complete or satisfactory introduction to the works of a poet, who first showed his greatness in Lenore, but who continued to write poems not unworthy of Lenore for twenty years, and almost at the end of his career wrote perhaps his greatest poem in retelling the immortal story of Heloise and Abelard.

  
1 Leo Berg, Zwischen zwei Jahrhunderten. 1896. p. 218
2 Schiller. K. Goedeke's edition. Vol. 6. pp. 314-330.
3 A. W. Schlegel. Kritische Schriften. Vol. 2. 1828. pp. 1-81.
4 Leo Berg. p. 226

[p. 139] CONCLUSION

THE construction of Schlegel's Essay on Bürger's poetry is indicated in the paragraph which follows the introductory remarks on Bürger's life and Schiller's criticism of his poetry.1

   Bei einern Dichter, wie Bürger . . . sind die leitenden Begriffe bei seiner Ausübung der Kunst von groszer Wichtigkeit, um uns über die Ursachen des Gelingens and Verfehlens aufzuklären. Ich finde deren hauptsächlich zwei während seines ganzen poetischen Lebenslaufes herrschend: Popularität und Correctheit; obschon natürlicher Weise jener in dessen erster Hälfte, dieser in der letzten mehr hervorstach.

   The greater part of the Essay is concerned with the discussion of the first of these principles - Popularität. Schlegel narrows down the question nominally to a comparison between Bürger's ballads and old popular ballads. To be fair to Bürger, it would be more accurate to regard the comparison as being between Bürger's ballads and Schlegel's ideal Romanze, a particular category of poetry, with its historical setting in the Middle Ages. From this comparison Schlegel develops his theory of Bürgers Manier, the theory which dominates the traditional criticism of Bürger's poetry.
   Schlegel's conception of the ideal of Popularität is illustrated by his appreciation of Bürger's shorter poems (such as the Minnelieder and Des armen Suschens Traum).2

   Wir haben jetzt die gröszeren Romanzen sämmtlich durchgegangen, es ist aber· noch eine Anzahl kleinerer Stücke züruck, die zum Theil romanzenartig, zum Theil Lieder im Volkstone sind, und worunter die meisten, wie mich dünkt, nicht leicht zu sehr gelobt werden können.

   So far in Schlegel's Essay there have been only a few lines of appreciation of the shorter poems and a more detailed appreciation of Lenore to set against the pages of criticism devoted to the longer ballads, more especially Lenardo und Blandine, Das Lied vom braven Mann and Die Entführung. Nor does Bürger fare any better, when Schlegel turns to the discussion of the principle of Correctheit. He effects the transition between the two parts of his Essay by the following reference to Bürger's shorter poems.3


   Doch musz ich erinnern, dasz ich unter den obigen Stücken die früheren in ihrer ursprünglichen Gestalt meine, so wie ich auch bei den vielerlei Veränderungen, die Bürger mit seinen übrigen lyrischen Gedichten vorgenommen hat, fast durchgängig für die alten Lesearten stimmen würde.

   In speaking of Bürger's application of the principle of Correctheit, Schlegel devotes most of his attention to Die Nachtfeier der Venus, following the example of Bürger himself.4

   Dasz Bürger sich mit seinen Correcturen besonders an die Nachtfeier der Venus gehalten, ist ganz in der Ordnung: denn dieses Gedicht, wie er es dem Lateinischen frei nachgebildet, war vom Anfange an zum Corrigiren eingerichtet und kann für nichts weiter gelten als ein phraseologisches Studium.

   In his concluding paragraph on the principle of Correctheit Schlegel again returns to Die Nachtfeier, in order to show that Bürger's poetry had been dominated by this principle of Correctheit throughout his whole career.5

   Wenn man ferner bedenkt, dasz die Nachtfeier der Venus. sein frühestes und das hohe Lied, eines seiner spätesten Werke, ungefähr nach derselben Idee der Tadellosigkeit und einer absoluten Vollkommenheit der Diction und des Versbaues . . . ausgeführt und durchgearbeitet sind: so kann man schwerlich zweifeln, dasz die Maximen der Correctheit während seiner ganzen Laufbahn groszen Einfiusz gehabt haben.

  This last argument is hardly worthy of a great critic like Schlegel; for it was in the last version6 of Die Nachtfeier, written at the end of his life, that Bürger attempted to reach the ideal of formal perfection; the first version7, written at the outset of his career, is almost the antithesis of the last version, because it sacrifices smoothness and symmetry to vigour and vividness.
   When we have finished Schlegel's criticism of the principle of Correctheit, we have almost reached the end of the whole Essay. Throughout the first part he has directed our attention to the ballads, more especially to the weaknesses in them; throughout the second part he has directed our attention to the alterations in the light lyrics, and Die Nachtfeier.
   When we look for some comment on Bürger's greater lyric poems, we find that Schlegel does not merely dismiss them with a few lines of criticism, but condemns them all for one reason or another. The Elegie and Das Hohe Lied are apparently condemned because they are too close to reality to be conveniently placed in any of the ideal categories of poetry.8


   Die Erwähnung des hohen Liedes führt mich auf einige seiner geliebten Molly gewidmete lyrische Stücke, die noch zurück sind. Ihr dichterischer Werth ist aber so mit der Verworrenheit, wirklicher Verhältnisse verwebt, dasz sie keine reine Kunstbeurtheilung zulassen.

   The Sonnets are condemned more specifically on technical and historical grounds9 as not fitting conveniently into the category of Schlegel's ideal sonnet. The Heloise an Abelard is similarly condemned for not being written in conformity with the laws of its own poetic category, and doubly condemned by the unfavourable comparison to Pope's poem.10
   Thus we are not surprised to find in Schlegel's final summing-up of Bürger's poetry that his ballads and lightlyrics are regarded as superior to the rest of his lyric poetry.11

   Mehr in der Romanze und dem leichten Liede als in der höheren lyrischen Gattung einheimisch; in einem Theil seiner Hervorbringungen ächter Volksdichter, dessen Kunststil, wo ihn nicht Grundsätze und Gewöhnungen hindern, sich ganz aus der Manier zu erheben, Klarheit, rege Kraft, Frische und zuweilen Zierlichkeit, seltner Grösze hat.

   This appreciation of the greatness of Bürger's poetry is a surprising contrast to the criticism of so many of the individual poems throughout the essay. But these few lines are not sufficient to efface the impression of the preceding pages. In making Bürger's poetry turn on the principles of Popularität and Correctheit, Schlegel's narrow interpretation of Popularität falls as far short of Bürger's ideal of vividness, as his Correctheit falls short of Bürger's ideal of unity and harmony. In fact he fails to appreciate the two essential qualities, which combine to create· the originality of Bürger's style.

1 A. W. Schlegel. Kritiscbe Scbriften. 1828. p. 12.
2 A. W. Schlegel. p. 57.
3 A. W. Schlegel. p. 59.
4 A. W. Schlegel. p. 66.
5 A. W. Schlegel. p. 72.
6 A. W. Bohtz. Bürgers Sämmtliche Werke. 1835. pp. 1-4.
7 A. E. Berger. Biirgers Gedichte. 1891. pp. 7-14.
8 A. W. Schlegel. p. 73.
9 A. W. Schlegel. p. 73.
10 A. W. Schlegel. p. 79.
11 A. W. Schlegel. p. 81.

 Das vollständige Werk in der ONLINE-BIBLIOTHEK

 

1937

Fricke, Gerhard. Göttinger Hain und Ballade. Festrede am 26. Juni. Göttingen.

“[S. 21] Und selbst den Stoff zu seiner stärksten Schöpfung hat Bürger dem Munde eines schlichten Mädchens aus dem Volke abgelauscht und hat daraus mit unerhörter Kraft der Steigerung und fortreißenden Bewegung die ´Lenore´ gestaltet, deren Verzweiflung den im Siebenjährigen Kriege gefallenen Geliebten aus der Gruft zu ihr zwingt, der sie dann in gespenstischem, nächtlichem Ritte dahinführt, um mit ihr im Morgengrauen in das hochzeitliche Grab zu sinken. Die ´Lenore´, deren Wirkung in schroffer Ablehnung und stürmischer Zustimmung so weit über Herders Weckruf hinausging, wie die schöpferische Tat kraftvoller ist als Forderungen und Programme - die ´Lenore´ wurde zum Fanal, das der noch herrschenden literarischen Generation den nahem Untergang, den jugendlich vorwärtsstürmenden Geistern aber den unaufhaltsamen und nahen Sieg verkündete. Und wenn Goethe die ´Lenore´ vor Frankfurter Patrizierkreisen deklamierte, wenn sie gleichzeitig niedersächsischen Bauern im abendlichen Kreis um die Dorflinde zu ergriffenem Zuhören brachte, so hat Bürger hier sein höchstes Ziel erreicht, das Ziel, Volkspoesie zu schaffen, deren einfache Tiefe und Gewalt, deren unwiderstehlicher Klang die Nation in allen ihren Gliedern von innen her vereint und sich wiedererkennen läßt. “

Der vollständige Vortrag in der ONLINE-BIBLIOTHEK

 

1937

Kölnische Zeitung 1.1.1937


"Aus: Walter Flex: Briefe.
Das Passagiergutpaket ist noch nicht angekommen: und ich bitte euch, danach zu recherchieren... Aber bitte singt jetzt erst einmal, um in die richtige Gemütsverfassung für alle Fälle zu kommen, im Chor das schöne Lied: 'Hin ist hin, verloren ist verloren.' Das Unglück ist wirklich nicht groß."

 

1938

Wychgram, Jakob. Sturm und Drang. In: Hilfsbuch für den Unterricht in der deutschen Literaturgeschichte. Bielefeld und Leipzig, Siebenundzwanzigste Auflage

“[S. 75] Lenz, Goethes intimer Freund, Klinger und der unglückliche, vom Herzog von Württemberg lange Jahre auf dem Hohenasperg gefangen gehaltene Schubart sind die hauptsächlichen Stürmer und Dränger; doch stand ihnen auch Gottfried August Bürger (1747-94) nahe, der Verfasser berühmter volkstümlicher Balladen (Lenore; Lied vom braven Mann; Der wilde Jäger; Der Kaiser und der Abt).

[In der ´Zeittafel zur deutschen Dichtung´ ist Bürger nicht vertreten, dafür in der Reihenfolge: Klopstock, Lessing, Wieland, Herder, Goethe, Schiller, Kleist, Uhland, Grillparzer usw.] “

 

1938

Rattermann, Heinrich Armin. Letters of Heinrich Armin Rattermann to Father Rothensteiner, Joliet, Ill. Digitalisiert vom Internet Archiv

"[S. 110, Letter XIX, den 30. Januar 1910] Voß schimpft auf Bürger, dem er doch, abgesehen von seinen Uebersetzungen, als selbständiger Dichter selbst mit seinen Idyllen, nicht die Schuhriemen auflösen kann. Schiller schimpft auf Bürger und nennt seine Dichtungen unidealisch. Ich nehme Burger's Verirrungen nicht in Schutz, aber er war ein ebenso großer Dichter als Schiller, die Dramendichtungen Schillers ausgenommen, denn darin ist Schiller unser größter Dichter.”

[S. 143, Letter XXXIII, 18. Dezem. 1812] In dem Sonett auf Bürger ziele ich nach Schiller, der Bürger's Gedichte aus dem versteckten Hinterhalt anonym tadelte." 
 

1939

Siebenschein, Hugo. Deutscher Humor in der Aufklärung.

“[S. 88] Für Bürger aber liegt die Bedeutung des Fundes in der dynamischen Fülle neuer Entfaltung, weshalb er auch so oft den edlen alten Glanz stillglühender Kostbarkeit mit der plebejischen Buntheit eines Farbeneffektes überdeckt.
    Der näher nicht erklärbare geniale Entschluß war der Ausgangspunkt. Er lag meilenweit weg von allem, was man zu Bürgers Zeit schätzte und ernst nahm, im barocken Bänkelsang. Der Jahrmarkthistrione stellte sich auf offener Straße auf ein Bänkchen, um seine Zuhörerschaft zu überragen, entfaltete eine auf harte Deckel aufgezogene Bilderreihe, die die entscheidenden Wendepunkte einer Gesamthandlung in rohester Ausführung vor Augen stellte, und stimmte seinen eintönigen Gesang an. Mit einem Stabe in der Hand wies er auf das die gerade besungene Einzelepisode darstellende Teilbild. Er sprach allerdings mehr ein episches Recitativ, als daß er gesungen hätte. Irgendeine durch augenblickliche Aktualität reizvoll gewordene Moritat gab den Inhalt her. Der gleichmäßige primitive Rhythmus, der mechanische Reim, die abgezählten Zeilen und Strophen dienten der leichten Faßlichkeit, der sinnlichen Anschaulichkeit auf niedrigster Vorstellungsstufe und der leichten Memorierung. In einer künstlerisch und namentlich stilistisch so verfeinerten und anspruchsvollen Zeit konnte niemand auf den Einfall kommen, daß die Wurzeln einer Neugestaltung Stoffschichten von so tiefer Lagerung aufsuchen würden. Das blieb Bürger vorbehalten. Niemand hat den Gedanken fassen können, daß zwischen der auf den Jahrmärkten vernehmbaren Moritat und den erhaltenen Bruchstücken edler spanischer und englischer Volksballadik irgendein genetischer Zusammenhang walte; selbst Herder nicht. Nur Bürger hat ihn gefühlt, nur er hat aus diesem Gefühl heraus gedichtet, was entscheidender ist, als wenn er noch so gelehrte Betrachtungen dieser Art aufgestellt hätte. Wir können all der ästhetischen Verachtung und Geringschätzung, die sowohl Schiller als auch Schlegel diesem Straßengesang später entgegenbrachten, beistimmen. Das ändert nichts daran, daß Bürger hier einsetzen mußte, um zur komischen Ballade zu gelangen, und daß nur die aus diesem Ausgangspunkt in die Zukunft strebenden Richtungen zu Goethes humoristischer Ballade fuhren konnten. Man muß ins Auge fassen, daß hier zwei mit Unrecht verbundene Vorstellungsreihen voneinander abzweigen. Was vorbildlich, schön, ideal oder wie immer erhaben ist, muß deshalb noch keineswegs auch fruchtbar, zeugend und vital sein, wie sich umgekehrt das Fruchtbare, Zeugende, Vitale unzählige Male im Groben, Niedrigen, Rohen und Ungebildeten verkörpert. Gewiß: als Bürger, um Schillerisch zu sprechen, zum Bänkelsang ´herunterstieg´, konnte weder er noch andere wissen, wo er enden würde. Heute aber wissen wir das und müssen daher auch einsehen, daß Schlegel irrte, als er echt romantisch forderte, Bürger hätte den Bänkelsänger nur mimen dürfen, ohne wirklich Bänkelsänger zu werden. Nur ein Dichter, der in der lebendigen Wirksamkeit des Straßensängers, also des Journalisten von damals aufgegangen ist, ohne diesen, dem romantischen Geschmack entsprechend, lediglich zu spielen, konnte den so tief liegenden Ausgangspunkt in seiner zeugenden Fruchtbarkeit erkennen. Nur sein dichterisches Empfinden vermochte in diesem Mutterboden allen Reichtum der Uberlieferung volkstümlicher Rede bis zu Hans Sachs zurück mit dem fließenden Sprachstoff zu verknüpfen, nur aus seiner neugestaltend-vermischenden Fähigkeit, Säfte weit auseinander liegenden Ursprungs unbedenklich, oft auch geschmacklos ineinanderströmen zu lassen, konnte die Kreuzung zustande kommen, in der sich Züge altdeutschen Humors, der spanischen und der englischen Volksromanze, des Straßengesanges und Wielandscher Meisterschaft verbunden haben.

[S. 91] In der ´Prinzessin Europa´ erwirbt nun auch Bürger die metrische Meisterschaft über Formen, deren Endzwecke ihm damals noch unbekannt waren. Beachten wir, wie vollkommen hier Überlieferung und der noch ungeahnte künftige Kunstzweck organisch ineinandergreifen . Die Zeile selber, aber jedenfalls die Strophe strebt inhaltliche Abgeschlossenheit an. Den Satz hinüberzuziehen, würde dem Gehör und dem Verstande des anspruchslosen Zuhörerkreises zu viel zumuten und auch die bescheidenen Möglichkeiten der Stimmleistung übersteigen. Das Gleichmaß muß den Fluß der Rede auch für ein grobes Gehör mechanisch gliedern. So schlägt der Klavierspieler in der Tanzstunde den Takt seiner Musik möglichst aufdringlich, um die Schritte der Ungeübten zu lenken. Ihn bekümmert es wenig, wie sehr er den musikalischen Sinn des Stückes durch seinen Vortrag zerstört. Unter diesem Gesichtspunkt sind Vers, Reim und Strophe der ´Prinzessin´ zu verstehen, nicht unter dem idealischen Schillers, der den Zusammenhang zwischen Form und Inhalt vermißt, nicht unter dem gelehrten Schlegels, der den Klangwert mit den Vorbildern vergleicht und berechnet. Den praktischen Zwecken entspricht Bürgers Strophe wunderbar. Sechs Zeilen sind gerade lang genug, um darin ein episches Bruchstück eben zu bewältigen. Alle 57 Strophen schließen syntaktisch rund in sich ab, ohne in die nächste Strophe hinüberzugreifen, und auch innerhalb der strophischen Satzeinheit drängen sich die gliedernden Schriftzeichen ans Zeilenende. Die Strophe ist aber mit ihren sechs Zeilen andererseits doch auch kurz genug, um während ihrer Dauer dem schwächsten Gedächtnis und der lahmsten Einbildungskraft gegenwärtig zu bleiben, bis die Handlung zur nächsten Stufe weiterschreitet.

[S. 92] Bürger gab dem Volke die Nahrung, nach der es hungerte. Er mußte seinen Zusammenhang mit ihm um jeden Preis lebendig erhalten. Erst als er die Zubereitung dieser beliebten Speise, deren üblen Geschmack Schiller und Schlegel von Anbeginn an richtig erkannten, fest im Handgelenk hatte, ging er daran, den Hunger zu veredeln. In der ersten tragischen Ballade ist ihm gelungen, mit dem Glückswurf der ´Lenore´ alle Zwischenstufen der Entwicklung zu überfliegen. Den Boden der Volkstümlichkeit stets fest unter den Füßen behaltend, hat sich Bürger weder von Schillers Kritik noch von Schlegels Ratschlägen in die papierne Welt der Literatur verlocken lassen. Auf dem Wege von der ´Prinzessin´ zur ´Lenore´ hat Bürger seine breite Geschwätzigkeit, sein lehrhaftes Allessagen zu Gunsten der dramatischen Andeutung, der hervorstoßenden Rufsprache aufgegeben. In weiterer Steigerung wahrhafter Erregung trat die onomatopoetische Interjektion in einem bisher unbekannten Maße hervor. Jedenfalls stand die neue Ballade als sinnvoller Naturlaut mit ureigener Melodie da. Daher die elementare Wirkung der ´Lenore´ in Deutschland. Man empfand aber auch in England durchaus richtig, daß hier die Volksballade wieder als Naturgebilde aus Künstlerhand hervorgegangen ist und daß diesem Gedicht neben den oft fragwürdigen Altertümern Percys ein ebenbürtiger Platz zustehe.

[S. 93] Wieder zwei Jahre später, 1777, liegt ´Frau Schnips´ vor. Der in Bürger ringende Geist der humoristischen Ballade bewältigt in diesem Gedicht zwei wesentliche Teilaufgabcn. Der Anachronismus und der Anatopismus mußten als zwei seit allen Zeiten belebende Elemente des Humors der vorliegenden Gestaltungsaufgabe, den Stilmöglichkeiten der deutschen Balladc einverleibt werden. Schon die ´Prinzessin Europa´ war auf roher Geschmacksstufe dieser Aufgabe gewidmet. Dort galt es fast ausschließlich, die Erhabenheit, die die griechische Götterwelt ausstrahlt, durch prickelnde Anzüglichkeit zu ersetzen. Auch ´Frau Schnips´ hat zunächst Pathos in Antipathos zu verwandeln, auch sie geht mit dem Rezept hemmungsloser Respektverweigerung und Zutraulichkeit vor. Auch ihre Brücke ist lediglich frische Unkenntnis. Das ist der tief eulenspiegelische Zug. Unbeschwert von jeglicher Kenntnis der alt- und neutestamentarischen Welt beurteilt sie Adam, Jakob, Lot, König David und die Apostel genau nach den sittlichen Wertbegriffen einer niederdeutschen Waschfrau des 18. Jahrhunderts. Für Bürger lag hierin eine Teillösung, deren Ergebnis sein umfassender Humor dann in sich aufsog. Sein geringerer Epigone Blumauer konnte damit schon den Großteil seiner geistigen Auslagen überhaupt bestreiten. Die zweite Teillösung, die ´Frau Schnips´ für den Bürgerschen Humor bringt, liegt in dem für diesen Zweck geeigneten Wortschatz. Die seit Hans Sachs, Luther und der Reformationsdichtung vorhandene Schimpf- und Schandbezeichnung eröffnet sich ihm als Hauptquelle. Schon die Anforderung gesteigerter Schlagfertigkeit fördert die Grobheit. Auch hier war es wieder nötig, daß Bürger sich nicht als Bänkelsänger verkleide, sondern daß er es werde. Nur so konnte er aus dem innersten Herzen des Volkes heraus reden und mit dieser Rede den Veredelungsweg zur Höhe des Dichters antreten. So erreicht Bürger mit seiner ´Frau Schnips´, die alle biblischen Heroengestalten mit flinker Zunge katechisiert, die echte, dem volkstümlichen Naturlaut verwandte Sprachpatina der Derbheit und der Frechlleit. Was in der ´Frau Schnips´ noch als Ziel galt, wird nachher in den Vorrat gefügig funktionierender Mittel eingereiht. In dem höchsten, im Schlegelsehen Sinne ist auch Bürgers ´Frau Schnips´ nur Übersetzung. Doch sind alle Spuren der Übersetzung auf dem Wege von Percys Ballade zum deutschen Gedicht vergeistigt. Bürger hat den unübertragbaren und abgestreiften Klangzauber der fremden Sprachlichkeit durch den neuen der deutschen Überlieferung ersetzt. Weil er es wagte und seine Fran Schnips es verstand, jedes Ding bei seinem Namen zu nennen, ist ihm die Bluttransfusion gelungen und das Gedicht ist zu einem neuen veränderten Eigenleben erstanden.

[S. 97] Im Laufe der Entwicklung hat Bürger auf der Linie der komischen Ballade die rohe Illustration der Bildtafel des Bänkelsängers zu einem farbenreichen und aus vielen Figuren zusammengesetzten Ensemble des Puppenspieles erweitert. Diese seine Gestalten, sein Kaiser, sein Graf, sein Mönch, sein Abt, seine Prinzessin, sein Mann und seine Frau aus dem Volke sind kunstvolle Theaterpersonen. Aber es hat ihm für jeden Standesbegriff eine Figur genügt und sie tritt immer wieder mit derselben Maske und in demselben Kostüm auf. In der ´Lenore´ und im ´Münchhausen´ haben wir es dagegen mit Persönlichkeiten zu tun, mit Wesen aus Fleisch und Blut. Es ist ein oft begangener Irrtum, in diese Unterscheidung an sich einen künstlerischen Gradunterschied hineinzulegen. Eine organische Gestaltung kann qualitativ mißlungen, eine ornamentale qualitativ vollkommen sein. Und umgekehrt. In der ´ Lenore´ , im ´Münchhausen´ überwiegt der erregte Dialog, das dramatische Tempo, der Wirklichkeitswert der Erscheinung, die Einmlaligkeit des Einzelwesens. In den humoristischen Balladen nimmt der berichtende Dichter, der bilddeutende Bänkelsänger fast die ganze Zeit und den ganzen Raum in Anspruch, die Figur ist nicht persönlich, sondern ständisch, sie setzt sich nicht als Ich der Welt gegenüber durch, sondern fügt sich einem Bühnenbild in Form und Farbe harmonisch ein.”

Der vollständige Beitrag zu G. A. Bürger in der ONLINE-BIBLIOTHEK.

 

1939

Abendroth, Walter. Der Vergessene. Eine Ehrenrettung für Gottfried August Bürger. In: Monatsschrift für das deutsche Geistesleben.

“[S.487] Es ist kein Zufall, daß das historische Fehlurteil, welches sich bis in unsere Tage zum Schaden der unbefangenen Einsicht in den hohen künstlerischen Wert, ja, die überragende, beispielhafte Bedeutung der Bürgerschen Dichtung auswirken konnte, seinen Ursprung in der vernichtenden Kritik hat, die Schiller (als dankbaren Fußtritt auf eine Widmung voll rührender Verehrung) unserem Dichter angedeihen ließ. Diese Kritik ist außerordentlich bezeichnend und aufschlußreich. Den Eindruck, den Bürgers Person auf ihn machte, faßte Schiller einmal brieflich dahin zusammen, daß er ihn einen “graden, guten Menschen” nannte, der “nichts Auszeichnendes in seinem Äußern” habe; der Charakter von Popularität, der in seinen Gedichten herrsche, meint er, verleugne sich auch nicht in seinem persönlichen Umgang; hier wie dort verliere er sich zuweilen in das Platte. “Nichts Auszeichnendes”, das bedeutet: Bürger gab sich schlicht und natürlich, er spielte nicht - oder schon längst nicht mehr - den Himmelstürmer der “Genieepoche”. Gerade um dessentwillen war er Lichtenberg wert, der für nichts so viel Hohn bereit hatte, wie für das “Genie”-Unwesen jener Zeit (und übrigens - dies zur Berichtigung des “sentimentalen” Bürger - für das sentimentale und pathetische Getue der damaligen “Barden”). Jener Persönlichkeitsschilderung aus Schillers Feder entspricht nun ganz und gar die Kritik, die er über Bürgers Gedichte in der “Allgemeinen Lietratur-Zeitung” abdrucken ließ. Wir müssen uns damit begnügen, die hauptsächlichen Vorwürfe, die er dort apodiktisch erhob, in wenige Stichworte zusammenzufassen. Nach Schillers Meinung war Bürgers Dichtung minderer Art wegen ihres Mangels an “Idealisierungskunst” und ihrer “unpoetischen Empfindung”, ungeachtet ihrer “unnachahmlich schönen Diktion” (!) und ungeachtet dessen, daß die meisten Gedichte “poetisch gelungen” seien. Den schlechten Geschmack, den Schiller bei Bürger fand (als Beweis eines nicht gereiften, nicht vollendeten Geistes”) hatte der Kritiker noch durch eine umfangreiche Liste typischer Bürgerscher Wendungen belegt, die indessen nicht mit veröffentlicht war.; Wendungen und Spracheigentümlichkeiten provinzialistischer oder lautmalerischer Art, die insbesondere jene, Schillern unangenehme “Popularität” belegten und Entgleisungen “in das Platte” aufzeigen sollten.
Ja, in der Tat war Bürger kein Idealisierer - sein oberstes Kunstgesetz war Lebenswahrheit und Gefühlsechtheit; in der Tat auch war Bürger unbewußt und bewußt “populär”; in der Tat bezog seine Kunst auch “das Platte” ein - wenn wir dieses Wort verstehen im Sinne der Volksetymologie, im Sinne des stammeseigenen, bodenständigen, volkstümlichen Sprachgebrauchs. Und dieser Gesamterscheinung standen Wesen und Wollen des weltumspannenden Geistes, des dichtenden Philosophen, des absoluten Ästheten, der Schiller außer- und oberhalb seiner stärksten künstlerischen Leistung als pathetischer Dramatiker und theatralische Gestalter aus dem Großen war, so fern, wie sich nur denken läßt. Darin, daß Schiller das, was er “das Platte” nannte, sozusagen moralisch auffaßte oder mit dem Banalen gleichsetzte, daß überhaupt in seiner Begriffswelt “Volk” in erster Linie eine niedere Schicht, einen geringen Stand bedeutete, darin war er durchaus noch ein Kind seines Jahrhunderts, das zwar seit Rousseau gern mit “Natur” und Bäuerlichkeit kokettierte, doch nur unter der Voraussetzung, daß es sich dabei um “Rückkehr”, also um ein gewolltes Spiel handelte, nicht im Ursprung, um legitime Zugehörigkeit und naturgegebene Notwendigkeit. Darin aber, daß Schiller das “Idealisieren” und Abstrahieren als conditio sine qua non des beglaubigten Dichtertums ansah, darin widersprachen ihm schon manche sehr beachtenswerte Geister seiner eigenen Zeit mit Wort und Tat.”

Abendroths Ehrenrettung für Gottfried August Bürger in der ONLINE-Bibliothek.

 

1939

Hauptmann, Gerhart. Der Schuß im Park. Hier nach der Ausgabe Stuttgart 1974.

“ [S. 45] Unwillkürlich zitierte ich, ich erinnere mich genau, indem ich den Geheimrat bedeutsam anblickte:
  ´Knapp´, sattle mir mein Dänenroß,
  daß ich mir Ruh´ erreite.
   Es wird mir hier zu eng im Schloß,
   ich will und muß ins Weite.´
Wie sehr sollte ich, was ich nicht ahne, recht behalten.“

 

1940

Pfitzner, Hans. Sechs Sonette. Dem Gedächtnis des Meisters im Jahr seines 80. Geburtstags und seines Todes.

Gottfried August Bürger

WÄR Deine Liebestragik halbe Mythe
Und Du ein Spanier aus dem Mittelalter
Wie dann voll Lob der deutsche Ruhmespsalter,
Und voll von Mitleid alle Nachwelt glüthe!

Doch Du warst nur ein Deutscher. Und voll Güte
Dein warmes Herz. Bahnbrechender Gestalter
Als Dichter. Drum verkümmerte in kalter,
Mattherzger Menschen Welt Dein reich Gemüte.

Ein Führer war in Dir mit Deiner derben
Volkstümlichkeit; Du tratest nicht nur Spuren
Den alten Griechen nach und dem Franzos;

Und musstest tiefverletzt, in Armut sterben.
Doch jene zwei humanen Dioskuren
Versetzten Dir den schwersten Herzensstoss.

 

1940

Spielereien einer Kaiserin. Plauderei am Wochenende von Marabu. in Sächsische Volkszeitung 01.6.1940

"Stuka, Flak und Pak - vor wenigen Jahren noch hätten wir erstaunt die Köpfe geschüttelt, wenn wir diese Wörter gehört hätten. Heute kennt sie jedes Kind. [...]
Deutsche Dichter jedenfalls haben mindestens zum Zwecke der Lautmalerei immer wieder Wörter erfunden. Gottfried August Bürger machte unter seinen Zeitgenossen Sensation mit seiner Ballade 'Lenore', die nicht nur in der ganzen Konzeption so völlig anders war als die Rokoko-Lyrik, sondern sogar bei der Schilderung des Totenrittes die Verse wagte:
   'Und hurre, hurre hopp hopp hopp
   Ging's fort im sausenden Galopp.'
Das waren Wörter, wie sie bis dahin nur als Zurufe von Fuhrknechten gehört worden waren. Uns sind sie ganz selbstverständlich geworden; wir finden dabei nichts Besonderes mehr."

 

1940

Illustriertes Tageblatt 3.6.1940

"Am 8. Juni vor ...
146 Jahren starb in Göttingen der deutsche Dichter Gottfried August Bürger, der daselbst und in Halle studierte, zunächst Amtmann wurde und später, ebenfalls in Göttingen, Universitätsprofessor. Sein Leben und sein Charakter waren unerquicklich, er wurde von Wankelmut und Leidenschaft hin und her gerissen, wodurch seine erste Ehe zerbrach. Seine zweite währte nur wenige Monate und seine dritte wurde unglücklich wegen Untreue seiner Frau. Als Dichter aber ist Bürger der Schöpfer der deutschen Ballade, die in seinen Werken 'Das Lied vom braven Mann', 'Der wilde Jäger' und der 'Der Kaiser und der Abt' ihren Gipfel erreicht. Ebenso bedeutend, besonders für unsere Jugend, ist seine Uebersetzung des engtlischen 'Münchhausen'"

 

1941

Nadler, Josef. Literaturgeschichte des Deutschen Volkes. Dichtung und Schrifttum der deutschen Stämme und Landschaften. Zweiter Band: Geist, Berlin. (Sammlung Klaus Damert)

“[S. 174] In Altengleichen, bei Göttingen, wo Bürger Amtmann war, entstand 1773 seine einzige große Dichtung, die erste deutsche Ballade, in der ein Teil von Gerstenbergs englischen Saaten Früchte trug, ´Lenore´, von so allgemeiner aufwühlender Wirkung, daß sie nur mit Strophen Walthers von der Vogelweide und mit dem Kampflied Luthers verglichen werden kann. Gleims Volksromanzen sollten die Verse der Bänkelsänger ersetzen. Sein engster Landsmann Bürger wurde wirklich durch einen Bänkelsängerkehrreim zu seiner Dichtung hingerissen. Die größten Wirkungen dieser ersten deutschen Ballade sprangen nicht bloß aus dem wilden Stoffe auf oder aus der Vorbereitung, die Percys englische Balladensammlung geschaffen hatte, sondern vor allem auch aus der neuen Art, der Sprache unerhörten Ausdruck abzuringen. Zwischen dem Lautwert des Wortes und dem wirksamen Verständnis in der Seele des andern liegt die bequeme, gemächliche Brücke des Sinnes, des Bildes, des Gedankens. Die brach Bürger ab und warf frischgemut die Feuerkränze seiner naturnachahmenden Lautverbindungen von einem Ufer auf das andere. Die Art und Kunst dieser Ballade beherrschte Bürgers erste Gedichtsammlung von 1778, die Balladen dieses Buches ebenso wie durch gewisse Stilmittel der Bänkelsänger die komischen Romanzen. Das komische Heldengedicht, vorgedeutet durch das ostfälische, erzählend überlieferte Epos von Eulenspiegel, war gewissermaßen das Satyrspiel zu den großen epischen Gedichten der sächsischen Welt, ja mit Holberg des ganzen Nordens. So war es für den fränkischen Ostfalen Gleim wie für den thüringischen Bürger nur ein halber Schritt von der ernsten englischen Ballade zur komischen. Bürger wurde der eigentliche Dichter dieser Form. Die klangvolle Lyrik des Bandes, die feinen Sonette gewannen den trüben Lebenswirren des Mannes so viel Tiefe, Anmut und Wohllaut ab, als nur möglich war. [...] Aber wie wenig stimmt seine Haltung zu den großen epischen Dichtern des sächsischen Volkes. Bürger hat ihre Großformen ins Niedliche und Szenische, ihre erhabene Gesinnung ins Komische und Burleske gezogen.“

Der vollständige Beitrag in der ONLINE-BIBLIOTHEK

 

1942

Scholz, Wilhelm von (Hg). Nachwort. In: Die Ballade.

“[S. 596] Das Wesen der Ballade ist Vortrag. Sie ist volkhaft und zuerst für Menschen gedichtet worden, die nicht lasen, sondern hören und den Vortragenden das Erzählte, Geschilderte darstellen sehen wollten. Vortrag blieb auch in lesender Zeit das Wesen der Ballade. Von Bürger, dessen ´Lenore´ gewaltig die Reihe der deutschen Kunstballaden anführt, wird berichtet, er habe beim Vortragen dieses Werkes an der Stelle, wo es heißt:
   ´Rasch auf ein eisern Gittertor
   Gings mit verhängtem Zügel;
   mit schwanker Gert ein Schlag davor
   zersprengte Schloß und Riegel -´
mit einer Reitgerte leicht an Stuhl oder Tisch geschlagen und damit eine erschreckende Wirkung des Grausens bei den Zuhörern hervorgerufen. So hingen sie an seiner Gebärde und seinem Wort. Nicht minder kennzeichnend für das Wesen der Ballade, die voll erst in der menschlichen Stimme lebt, ist die Tatsache, daß heute der ausgesprochenste und fast an diese Form gebundene Balladendichter, Börries von Münchhausen, zugleich von allen Heutigen der gesuchteste und erfolgreichste Vortragende ist.

S. 602 Der Beginn der Balladenzeit ist durch das Erscheinen eines ausländischen Buches festlegbar, der ´Reliques of ancien English poetry´, ´Überreste altenglischer Dichtung´, das der Dichter Thomas Percy 1765 herausgab. Von den darin enthaltenen nordischen Balladen ging bei dem damals starken Einfluß des englischen Schrifttums auf das deutsche rasch eine Erweckung aus, die nun unter Einwirkung des Vätergutes balladenhafter Volkslieder die eigentliche Ballade entstehen ließ. Percys Sammlung war gewissermaßen der Katalysator, dessen Hinzufügung die Entwickelung hervorrief. In Herders ´Volksliedern´, 1778 und 1779, später in ´Stimmen der Völker in Liedern´ umbenannt, erschienen zugleich Stücke deutscher wie altenglischer wie balladenhafter Dichtungen anderer Nationen. Aber vorher schon, 1773, hatte Bürger die ´Lenore´ gedichtet. Noch einmal, im Brentano-Arnimschen ´Des Knaben Wunderhorn´ der Romantik, 1805, erhielt später die Ballade Zufluß volksliedhafter Anregung aus früherer Zeit; weshalb Stücke aus den bei den Sammlungen der von Bürgers ´Lenore´ ausgehenden Dichtungsfolge hier vorangestellt worden sind.
     Nachdem Bürger der unmittelbar aus seiner Gegenwart gegriffenen, alle überschauernden Totentanzdichtung der ´Lenore´ noch selbst mehrere packende Balladen angereiht hatte, ist der Weg gebahnt und frei. Abgesehen von einigen Bänkelsängereien von Gleim und einer belanglosen Ballade von Schubart, schließen an Bürger neben seinen Göttinger Freunden unmittelbar Goethe und Schiller an. Dann versuchen sich bis auf unsere Zeit fast alle Versdichter in der Ballade.”

 

1943

Bräm, Max. Die Nachfolger Klopstocks als Vorboten neuer geistiger Strömungen. In: Geschichte der deutschen Literatur. II. Teil Vom Barock bis und mit der Romantik. Basel

“[S. 37] Mit dem Göttinger Hain verwandt sind die beiden Dichter Gottfried August Bürger (1747-1794) und Mathias Claudius (1740-1815). Bürger hat seinen Ruf begründet mit der ersten deutschen Ballade ´Lenore´, die reich an Gefühlsgehalt ist und in ihrer bewegten, malerischen Art dem Sturm und Drang nahesteht. Sie besitzt viel innern und äussern Schwung, dramatisch-lyrische Kraft und volkstümliche Anschaulichkeit. Gedanklich ist sie noch im Aufklärertum verwurzelt. Bürgers Streben nach Volkstümlichkeit in der Dichtung wurde von Schiller bekämpft mit der Begründung, dass der Dichter den Leser bilden und veredeln müsse.
   Viel näher als Bürger steht uns heute noch Mathias Claudius, dessen schlichte Einfalt und Gläubigkeit der Quell sind, aus dem einige Gedichte von wahrer Schönheit entstanden. Wohl jedermann bekannt ist das naive und reine ´Abendlied´ :
   Der Mond ist aufgegangen,
   Die goldnen Sternlein prangen
   Am Himmel hell und klar ...
Ihm war auch die Gabe geschenkt, dem Volk einfach und doch eindrucksvoll zu erzählen in seinem ´Wandsbecker Boten´.“

 

1943

Ernst, Paul. Jugenderinnerungen. München. (Sammlung Klaus Damert)

“[S. 25] In ihrer Jugend war die Volksschulbildung noch sehr magelhaft gewesen; sie [Großmutter des Dichters P. Ernst] konnte wohl lesen, wenn auch langsam, aber nicht schreiben. So war denn ihre Sprache noch voller frischer Anschauung und verwendete keine abgebrauchten Worte, obwohl sie nicht Dialekt sprach, sondern Hochdeutsch. Was sie in ihrer Jugend an Geschichten gehört, das hatte sie treu bewahrt. Sie war im Jahre 1799 geboren, und ihre Jugend war in die Zeit gefallen, da unsre vorklassischen Dichter ins Volk drangen. So hatte sie vor allem die
Bürgerschen Gedichte kennen gelernt und hatte sie zum großen Teil auswendig behalten. Lenore, des Pfarrers Tochter von Taubenheim, das Lied vom braven Mann habe ich von ihrer zitternden, alten Stimme oft gehört und viele, viele alte Märchen, die ich dann später im Grimm gedruckt las.“

 

1943

Bartels, Adolf. Johann Christoph Friedrich Schiller. In: Deutsche Dichter, Charakteristiken, Leipzig.

“[S. 153] Daß Schiller kein eigentlicher Lyriker war, wurde bereits gesagt, und so sind auch die schwärmerischen und resignierenden Stücke seiner mittleren Periode wie das berühmte Lied ´An die Freude´ und seine großen philosophischen und philosophierenden Gedichte von den ´Göttern Griechenlands´ und den ´Künstlern´ bis zu den ´Ideale´" und dem berühmtesten von allen ´Das Ideal und das Leben´ künstliche Produkte, ´Treibhauspflanzen´, wie der junge Hebbel meinte, ´die es bei gekünstelter Farbe doch nie zu Geruch und Geschmack bringen´. Allein die große Persönlichkeit Schillers und die prachtvolle Form, die er zunächst von Bürger übernahm, dann aber noch weiter ausbildete, gibt auch diesen Gedichten jedenfalls ihre Bedeutung.”

 

1943

Straßburger neueste Nachrichten 20.3.1943

"Das Elbinger Stadttheater plant zwei besonders literarisch und theatergeschichtlich interessante Aufführungen, und zwar die seit 150 Jahren nicht mehr gespielte Nachdichtung des Shakespearschen 'Macbeth' von Gottfried August Bürger und 'Die Prinzen von Syrakus' von Karl Immermann."
 

1944

Soergel, Albert. Gottfried August Bürger zum Gedächtnis. In: Leipziger Neueste Nachrichten. Freitag, den 9. Juni (Sammlung Helmut Scherer)

“[S. 3] In Not und Elend starb, erst 45 Jahre alt, am 8. Juni 1794 der deutsche Dichter, der mit 25 Jahren unmittelbar mit Goethe in ganz Deutschland gefeiert wurde. Kein Werk war 1774 neben Goethes ´Götz´ so in aller Munde wie Bürgers ´Lenore´. Unalltäglich war das Leben dieses Dichters, ein Leben, bestimmt durch Schicksal und Schuld. Den leidenschaftlichen Zwangsstudenten der Theologie retten zunächst noch die Jünglinge des ´Göttinger Heins´ vor der Gefahr, sich zu verlieren. Dann aber werfen ihn Glück und Leid zwischen Himmel und Hölle hin und her. Aus der verzehrenden Leidenschaft für die jüngere Schwester seiner Frau entsteht der Versuch einer Doppelehe, in der Sinnenlust mit Seelenqual erkauft witrd. Ein seliges Jahr nach dem Tode der ungeliebten Frau wird mit dem frühen Tode der geliebten, mit Verzweiflung über den Verlust, mit einer dritten Ehe in Schmach und Schande, mit der Hölle im Hause und Gespött auf der Gasse bezahlt. Mit wirtschaftlicher Not des unbesoldeten Professors der ´schönen Wissenschaften´ und einer Krankheit zum Tode kündigt sich dann das Ende an, nachdem Schillers berühmte ´Rezension´ den Stab über Leben und Werk gebrochen hatte: wer sein Leben nicht gemeistert habe, dem fehle auch im Werke das Letzte, die Reife.
  Was ist aus diesem Fegefeuer doch geläutert erstanden im Werk? In der Lyrik nicht der Jubel, nicht das, was Leidenschaft oder Liebe ihm doch geschenkt hatten, sondern wie es nicht anders sein kann und darf, das, was das Leben ihm versagte: Kunst bleibt Gestaltung aus Verzicht. Der Glanz der überlangen Molly-Lieder, die das sinnlich erregende Bild der Geliebten festhalten, ist verblaßt. Bestanden aber hat in der Jahrhundertauslese neben den Nachrufen an die Entrissene vor allem der Teil des Werkes, den auch Schiller nicht angetastet hatte, der balladische. Das Wechselspiel einer aufgewühlten Natur mit dem wie aus ihr erwachsenen Schicksal, menschliches Erliegen und menschliches Obsiegen haben alle Geschlechterfolgen erregt, gleichgültig, aus welchen Lebens- und Bildungskreisen man kam, und diesen Aufruhr drinnen und draußen spüren noch heute Jugend und Alter. Weltgefühl unseres Volkes, unserer Rasse ringt hier um seinen dichterischen Ausdruck. Ebenso schmunzeln wir über die heitere balladische Spiegelung der Welt und über die lustigen Abenteuer Münchhausens. Wir lieben den Volksdichter, der uns diese heute noch jungen Gebilde geschenkt hat, und wir trauern mit ihm, wenn wir seine Vorreden und Briefe lesen, diese ewigen Beichten und Selbstbildnisse eines Menschen und Dichters, der immer getrieben war. Wir freuen uns, daß er sich mit Goethe und Herder zu einer deutschen Volksdichtung bekannte und für sie kämpfte. Er war auf dem Wege zu uns. Jeder Volksdichter von heute steht mit auf seinen Schultern. Er bleibt eine der stärksten Kräfte der mit der Mitte des 18. Jahrhunderts einsetzenden ´Deutschen Bewegung´.”

 

1944

Schoof, Wilhelm. Gottfried August Bürger. Ein Vorkämpfer der volkhaften Dichtung. In: PARISER ZEITUNG, 8. Juni.  (Sammlung Helmut Scherer)

“Wie Goethe und andere zeitgenössische Dichter war er aus einem weltfremden Anakreontiker unter Herders Einfluss zu einem deutschbewussten Dichter geworden. [...]

   Wie Herder stellte Bürger der gelehrten Kunstpoesie eine aus den Urgründen der Volkheit geschöpfte Volkspoesie gegenüber.

Mit dem letzten Satz hat Bürger Zielsetzung und Aufgabe der Volksdichtung, wie er sie verstanden wissen will, im Sinne der heutigen volkhaften Dichtung treffend gekennzeichnet. Volkstümlich ist für ihn das, was aus den Grundkräften des Volkes hervorgewachsen ist und als fester Besitz in das Bewusstsein des Volkes eingegangen ist.

   Er setzte sich damit in einen ausgesprochenen Gegensatz zu Schillers Anschauung, dessen Balladen fast durchweg der Welt des klassischen Altertums entstammten, und zog sich 1791 eine höchst ungerechte, rügende Kritik dieses Dichters zu, welche den Widerstreit der Schillerschen Klassik und der Bürgerschen volkhaften Dichtung grell beleuchtet. Wenn Schiller ihm darin den Rang eines Volksdichters abzusprechen suchte [...], so bewies er damit, wie wenig er Bürger verstanden hatte. Denn dieser hatte in der Vorrede der zweiten Ausgabe seiner Gedichte den Begriff der Volksdichtung dahin erläutert: ´wiewohl ich ganz und gar die Forderung nicht so weit getrieben haben will, dass nun jedes Gedicht jedermann in gleichem Masse verständlich und behaglich sein soll.´

Das rasch beliebt gewordene Volksbuch ist uns neuerdings durch die Gegenwärtigkeit der Gestalt Münchhausens im Film wieder nahe gebracht worden. Auch Bürgers Homerübersetzung ist von dem Bestreben geleitet gewesen, ´den grössten Volksdichter aller Völker und Zeiten´ dem Volksempfinden fruchtbar zu gestalten. Sie errang ihm den ungeteilten Beifall des ihm mehr Verständnis entgegenbringenden Goethe. Was Bürger mit dieser Verdeutschung im Auge hatte, war eine Ueberwindung der Klassik durch eine dem volkhaften Geist sich nähernde Dichtung, bei welcher das klassische Altertum nur den äusseren Rahmen abgibt. Die echt volkstümliche Wiedergabe der Münchhausen´schen Lügenmärchen sowohl wie seine volkstümliche Homerübersetzung deuten an, was Bürger als volkhafter Epiker auf dem Gebiet des Volksromans hätte leisten können, wenn widrige Lebensumstände ihn nicht an der Ausreifung seines dichterischen Werkes gehindert hätten.

   Bürger ist seiner Zeit weit vorausgeeilt und hat als einer der ersten auf die wertvollen Kräfte hingewiesen, die in unserem Volkstum verborgen ruhen. Was ihm damals vorschwebte, ist heute mit dem Anbruch einer neuen Zeit des vaterländischen Empfindens Erfüllung geworden und befindet sich im Einklang mit der an unserer völkischen Selbstbehauptung ausgerichteten volkhaften Dichtung.”

Der vollständige Beitrag in der ONLINE-BIBLIOTHEK

 

1944

Taube, Otto Freiherr von. Im alten Estland. Stuttgart.

“[S. 153] Der Onkel hatte kluge und gute braune Augen, üder denen er Brille oder Kneifer trug. Er hatte einen Schnurrbart und einen kleinen Knebel- oder wie wir es nannten - Zwickelbart. Seine Stimme war tief, klingend, ausdrucksvoll. Er las gut vor und sagte gut Gedichte her: Uhlands Rolandsballaden, Bertran de Born, Bürgers Ballade vom Kaiser und Abt lernte ich als Knabe durch ihn kennen und lieben.

[S. 160] Dann behielten sie mich wohl noch bei sich, und wir lasen zusammen die Beckersche Wiedergabe der Ilias, oder der Großvater las Bürgers Lenore vor, von der er schon beim Spazierengehen mir oft Teile auswendig vorgetragen hatte. “

 

1946

Wirkungen eines „harten Geschlechtes“ in Das Volk 7.9.1946

   „'Menschen leben nebeneinander und
   können sich manchen Gefallen tun.'
            (Adalbert Stifter)
Ein Leser schreibt uns: Immer wieder berührte es mich eigenartig, daß bei Briefen an und von Behörden der sonst übliche Gruß wegbleibt. [...]
Die Behörden haben mit dem guten Beispiel voran zu gehen. Mancher wird etwas hart angefaßt werden müssen, weil er sonst auf nichts mehr reagiert, aber das alte Sprichwort: 'Mit dem Hute in der Hand, kommt man durch das ganze Land', muß wieder Geltung bekommen. Eines dürfen wir jedoch nicht werden: 'Kriecher', solche hatte es im Dritten Reich viele gegeben. Erinnern wir uns noch, wie sie mit zitternder Stimme 'Mein Führer' gesprochen haben. Denken wir an die Worte Gottfried August Bürgers:
   'Der Großen Hochmut wird sich geben,
   wenn unsere Kriecherei sich gibt.'"
 

1947

Eich, Günter. Gottfried August Bürger. Zur zweihundertsten Wiederkehr seines Geburtstages. In: Gesammelte Werke. Frankfurt a.M. 1991.

“[S. 576] Wer kennt ihn heute noch? Selten wird sein Name außerhalb des Zusammenhangs der Literaturgeschichte genannt. Dabei war er zu Lebzeiten einer der berühmtesten Dichter Deutschlands. Der junge Schiller, später Novalis und August Wilhelm Schlegel bewunderten ihn, Goethe stand mit ihm in Briefwechsel, kein geringerer als Walter Scott übersetzte seine Ballade Lenore ins Englische. Dieser Ruhm beschränkte sich nicht auf die Kreise der Gebildeten. Bürger war populär: In Berlin, so heißt es, konnte man seine Lenore auf der Straße singen hören, noch vor hundert Jahren kannten manche alten Leute dieses ungemein lange Gedicht auswendig.
  Der Ruhm ist verblaßt, die Volkstümlichkeit geschwunden, erloschen selbst das Interesse an Bürgers Biographie und an den Skandalgeschichten um seine drei Ehen, - mehrfach war er nach seinem Tode zum Roman- und Dramenhelden geworden. [...] Bald nach seiner Verheiratung wird er sich klar darüber, daß ihm seine Schwägerin mehr bedeutet als seine Frau. Sie lebt in seinem Hause und wird seine Geliebte. In seinen Gedichten - seit seiner Schulzeit schreibt er Verse - besingt er sie als Molly, ein Name, dem für unsere Ohren eine leise Komik anhaftet, - sie schwindet indessen, wenn man diese leidenschaftlichen Strophen liest.

[S. 577] Bürger gehört wie Günther und Grabbe zu den Unglücklichen unserer Literatur. Weniger indessen als bei diesen war sein Unglück eine Charaktereigenschaft. Die Katastrophen seines Lebens kommen zu einem guten Teil nicht aus ihm selbst, der Dämon in der eigenen Brust lenkt ihn nicht unmittelbar, sondern durch ein widriges Geschick und durch den Zufall. Der Dichter hatte genug Züge von Bürgerlichkeit, um auch eines ruhigen Glückes fähig zu sein. Ja, es ist seinem Charakter eine Banalität beigemengt, die fast das Eigentümliche seiner Dichtung ausmacht. Schiller, der anfangs von Bürgers Gedichten sehr beeindruckt war, veröffentlichte 1789 eine Rezension, die Bürger sehr verbitterte und niederdrückte. Er warf ihm darin vor, daß er das Niedrige unverhüllt ausspreche, während Dichtung überhaupt erst mit der Idealisierung, der Veredelung beginne. Schiller hat das Charakteristische Bürgers richtig erkannt und hat mit seiner Forderung von seinem Standpunkt aus, dem Standpunkt klassischen Idealismus, recht. Diese Forderung, von den Größten unserer Dichtung aufgestellt, hat bis heute etwas von ihrer autoritativen Kraft bewahrt, zum mindesten hat sie in Deutschland lange gegolten und manche anderwärts kräftige Entwicklung verzögert.

[S. 578] Die realistische Forderung ist in Deutschland seltener und mit geringerer Autorität gestellt worden, als die idealistische. Die Leistungen dieser Art sind nicht zahlreich, wenn auch von Bedeutung (Grimmelshausen, der junge Hebbel, Büchner). Der deutsche Hang zur Vernebelung geht mit einer Mißachtung der Wirklichkeit zusammen. Bürgers Kunstauffassung - er hat sie in Aufsätzen und Vorlesungen ausführlich dargelegt - ist an der Natur im realistischen Sinne orientiert. (Man versteht auch Bürgers zweite Kunstforderung ´Volkstümlichkeit´ in diesem Zusammenhang.) Insofern ist Bürger kein Klassiker und insofern zielt Schillers Tadel an ihm vorbei. Sein Standort ist bei Herder und Des Knaben Wunderhorn und durch Welten getrennt von Iphigenie und Tell. In Theorie und Beispiel hier, wenn auch mit schwächerer Kraft als die Großen unserer Dichtung, den notwendigen Gegensatz zur idealistischen Ästhetik vertreten zu haben, ist Bürgers Verdienst. [...]
   Ich empfinde die Lenore noch als bedeutende Leistung, - sie hat wirklich etwas vom Zauber des Gedichts, ist nicht wie so viele Balladen nur eine in Verse gesetzte Erzählung. Bürgers Liebeslyrik hingegen, auch seine Molly-Lieder sind nur noch in einzelnen Strophen, ja Zeilen gegenwärtig. Hier zeigt sich doch seine zeitliche Verflechtung und Beschränkung. Was damals schon als Natur gelten konnte, erscheint heute recht blumig und adjektivbeladen. Hinwiederum kann man einige heitere, ja witzige Gedichte, die keinen besonderen Ruhm genießen, mit Vergnügen lesen (Frau Schnips, Prinzessin Europa).

[S. 579] Mit einer anderen Arbeit, die er sicherlich überhaupt nicht geachtet hat und mit der Bürgers Name nicht von jedermann verknüpft wird, hat er wirklich sein Ideal der Volkstümlichkeit erreicht, mit dem Münchhausen-Buch. Er hat es als eine Übersetzung aus dem Englischen bezeichnet. In der Tat hat er eine englische Vorlage benutzt, jedoch auch aus eigenem beigesteuert. [...] Bürgers Name erschien nicht auf dem Titel dieser Ausgabe und ein Honorar hat er dafür nicht erhalten. Er war nicht Fortunens Kind. Wir sollten hin und wieder seiner, und nicht nur an den Gedenktagen, gedenken!“

 

1948

Ermatinger, Emil. Kraftgenies. Schubart, Bürger, Maler Müller, Heinse. In: Deutsche Dichter.
Erster Teil.

"[S. 245] Gottfried August Bürgers Leben fehlt der tragische Zug. Die Sinnlichkeit und Leidenschaft bestimmen es, schaffen ihm kurze Zeit höchstes Glück, bereiten ihm aber auch frühen Untergang. Wenn die ungerechte Einkerkerung die Welt Schubarts Verfehlungen vergessen ließ und ihm die Teilnahme aller Gerechtdenkenden schenkte, so ward das Mitleid mit dem unglücklichen Bürger schließlich durch die Lächerlichkeit überdeckt, der ihn die Blindheit seiner Eitelkeit preisgab.

[S. 247] Gegen die klassische Dichtung stemmt er sich mit dem ganzen Gewicht seiner Bauernnatur. Denn nicht nur Zeugnis des literarischen Wollens ist der Herzensausguß, sondern auch Ausdruck eines ungeordneten und sinnlichen Charakters. Der edle Enthusiasmus von Herders Sprache im Ossianaufsatz ist ins Rohe, Marktschreierische verzerrt. Er schimpft auf die ´Quisquiliengelahrtheit´ der Deutschen, daß die deutsche Muse ´keine deutsche Menschensprache, sondern vel quasi eine Göttersprache stammeln soll´. Er will das bildungs- und gesellschaftsmäßig abgestufte deutsche Volk wieder in ein einheitliches Ganze umformen und diesem eine Poesie schaffen. [...] Seine eigenen Gedichte, vor allem die ´Lenore´, sollten Proben dieser Volksdichtung sein. Begreiflich, daß solche Aussprüche, in denen Wahres und Falsches vermischt in der Maske eines neuen Evangeliums sich vorstellte, den Spott des alten Aufklärers Nicolai weckten. Wenn derartige Ansichten ins Volk drangen, so war ja das Bildungswerk, an dem er so eifrig arbeitete, aufs höchste gefährdet. So gab Nicolai gegen Bürger in zwei Bändchen seine Volksliedersammlung ´Eyn feyner kleyner Almanach vol schönerr echterr liblicherr Volckslieder´ heraus (1777/78) und schickte jedem Teile eine Einleitung voraus, die Bürgers ´Daniel Wunderlich´ durch die Gestalt eines Schusters Daniel Seuberlich parodierte.

[S. 248] Bürger war kein guter Beamter. Von Natur ungeordnet, vernachlässigte er über Vergnügungen mancher Art, über literarische Arbeiten, über seinen häuslichen Sorgen die Amtsgeschäfte und mußte immer wieder Strafgelder zahlen.

[S. 249] ...vor allem wenn man bedenkt, daß der Sprachunterricht genaue Kenntnisse verlangte, die er keineswegs besaß. Es gelang ihm denn auch nicht, die Achtung der Studenten und das Zutrauen der Professoren zu gewinnen. Nur Heyne und die beiden Mathematiker Kästner und Lichtenberg verkehrten freundschaftlich mit ihm. Man warf ihm, neben den mangelhaften Kenntnissen, ungenügende Vorbereitung für seine Vorlesungen vor. Empfängliche Studenten wußte er durch die Kunst und das Temperament im Vortrag von Dichtungen hinzureißen. Wer ihm näher trat, konnte, wie August Wilhelm Schlegel, auch in ästhetischer und namentlich metrischer Beziehung manches von ihm lernen. Er war auch einer der ersten, die über die Philosophie Kants lasen. Seine Kritik der reinen Vernunft nannte er sein tagtägliches Erbauungsbuch. ´Ich danke Gott für diesen
Mann, wie für einen Heiland, der die arme gefangene Vernunft endlich aus den unerträglichen Ketten dogmatischer Finsternis glücklich erlöset hat´ (14. Mai 1787). Man sieht, er hat nur das Umstürzende und Auflösende in Kants kritischer Philosophie, nicht das Aufbauende und Neuordnende erfaßt.

[S. 250] Zu dieser Vernichtung von Bürgers menschlichem Ansehen [dritte Ehe] kam ein tödlicher Schlag gegen sein Dichtertum: Schillers Rezension seiner Gedichte in der Jenaischen Allgemeinen Literaturzeitung von 1791. Nicht nur zwei Persönlichkeiten. auch zwei Zeitalter traten sich gegenüber. Schiller hatte in schwerem Ringen aus der trüben Zwiespältigkeit seiner Jugend sich zur klaren und sittlich reifen Persönlichkeit emporentwickelt, die nun nach eigenem Maßstab die derbe Volkstümlichkeit des Dichters Bürger beurteilte und ihr künstlerisches Ungenügen auf den sittlichen Mangel des Menschen zurückführte. Zugleich war Schillers Aufsatz der Epilog der Sturm-und Drangdichtung, der Prolog der Klassik. Bürger versuchte, in einer Antikritik Schillers Vorwürfe zu entkräften. Die Zeit aber ging über ihn hinweg, und er fühlte es. Von beiden Schlägen hat er sich nicht mehr erholt. Auch er träumte, wie Schubart, als die französische Revolution ausbrach, von dem Morgenrot einer freieren Zeit, in der die Rechte des Volkes gegen die Uebergriffe der Fürsten gewahrt werden sollten. Es war die vergebliche Hoffnung eines Enttäuschten.

[S. 253] Er vermochte nicht, seine Gedichte aus dem seelisch-geistigen Grunde seiner Persönlichkeit organisch hervorwachsen zu lassen. Er schuf sie nichts weniger als genialisch. Er fühle die lebendige Quelle nicht in sich, schreibt er 1772 mit Anspielung an Lessings bekannten Ausspruch. Er zeichnete seine Gedichte auf Grund eines Einfalles oder nach einer fremden Anregung mühsam auf, feilte lange daran und beriet sich mit seinen Freunden, vor allem Boie, über den besten sprachlichen Ausdruck. So gab er seinen Gedichten den Schein künstlerischer Wirkung. ´Lenore´, einst viel bewundert, ist in wochenlanger Arbeit und unter Teilnahme des Göttinger Hains ´der ganze Hain hat accouchiern helfen,´ bekannte Bürger selber - ein eigentliches Bravourstück, jedenfalls alles andere als ein Volkslied geworden. Echt volkstümlich sind ´Das Lied vom braven Mann´ und ´Der Kaiser und der Abt´. Im Grunde war ihm die äußere Kunstfertigkeit alles, mit der er die Zuhörer hinreißen konnte."

 

1948

Muschg, Walter. Tragische Literaturgeschichte. 1948.

“[Die Bürger, S.167] Die Stürmer und Dränger schwärmten von einer grundstürzenden Änderung der Dinge, waren aber nicht imstande, sie herbeizuführen. Sie liefen samt und sonders Gefahr, zwischen die Räder zu geraten. Der hochbegabte Gottfried August Bürger verdarb wie Günther und Chatterton «vor Hunger und Elend». Er wurde ein Opfer seiner verfehlten Berufswahl; weder als Theologe noch als Beamter und Professor fand er sich mit seiner heißen Sinnlichkeit zurecht, sodaß auch er, menschlich und literarisch geächtet, in Göttingen richtig verhungerte und über seine Hinterlassenschaft der Konkurs verhängt wurde. Andern, die sich nach Hans Sachsens Rezept in einen trockenen Brotberuf duckten und nur am Sonntag oder bei der Ölfunzel ihr Bestes versuchten, war das Glück nicht holder.

[Die Vaganten, S. 191] Die von Rousseau getroffene Jugend bekannte sich offen zur Anarchie und schuf eine Literatur der verlorenen Söhne, die das Bürgertum alarmierte. Hamann verkam in London als faulenzender Trunkenbold, Dirnenknecht und Schuldenmacher, um plötzlich über der Bibel zusammenzubrechen und als Prophet des lebendigen Wortes aufzustehen, der den Intellekt als luziferischen Abfall von der Wahrheit brandmarkte. Lavater reiste als Apostel der Begeisterung umher und lockte manchen üblen Doppelgänger auf den Plan. Herder riß sich in Riga brüsk von dem Pflichtenkreis los, in dem er zu erstarren fürchtete, und verabschiedete sich von den Behörden mit dem Hinweis auf einen «inneren Ruf Gottes». Bürger und Heinse machten sich mit ihrer Buhlpoesie moralisch unmöglich, Lenz führte das Leben eines Gehetzten. Goethe dichtete mit den Gestalten \Verthers, Goetzens, Fausts, Egmonts den Mythus dieser Vogelfreiheit.

[Die Schuld, S. 342] In der Kunst bedeutet dieses Vollkommenheitsbewußtsein unfruchtbare Erstarrung, aucb wenn es nicht in pharisäischen Dünkel ausartet. Jeder seherische Dichter, der sich auf eine Offenbarung beruft, läuft Gefahr, auf die Dauer so zu versteinern. Deutschland, das Land des Theologenhochmuts und des Kirchenstreits, hat diesen Typus auch in der Literatur besonders erfolgreich am Werk gesehen. Alle Macht ist böse und entsteht durch Schuld. Auch die Machtstellung, die Goethe und Schiller für sich eroberten, machte davon keine Ausnahme. Nachdem sie sich einmal verstanden, erwies sich der priesterliche Schiller als der geniale Hüter und Mehrer ihres Reiches. Er hatte den strategischen Blick und die unermüdliche Freude am Kampf. Schon auf dem Weg zu Goethe war er vor keiner geistigen Gewalttat zurückgeschreckt. Eine der schlimmsten war die Rezension, mit der er Bürger, den Dichter der «Lenore», als ein Goethe wohlgefälliges Opfer abschlachtete. Es war die eigene revolutionäre Vergangenheit, von der er sich mit diesem Meisterwerk an Scharfsinn und Bosheit lossagte, aber Bürger blieb dabei mit seiner Person und seinem Ruhm auf der Strecke. So gewaltsam ging es in Schillers ganzem Leben zu.”

 

1948

Grimm, Herman. Achim von Arnim und Clemens Brentano. In: Das Jahrhundert Goethes. Hg. Reinhard Buchwald.

“[S. 49] Achim von Arnim fühlte sich da heimisch, wo die untergehende Sonne über flache Strecken hinweg durch das hängende Gezweige der Birken scheint. Im norddeutschen Göttingen war auch im vorigen Jahrhundert der eigentliche Sitz der norddeutschen Dichtung. Dort durfte man Goethes Machtumfang ignorieren. Dort erstand Bürger, beinahe gleichaltrig neben ihm, der einzige heute, der mit Naturgewalt sich für die Produktion der Anfangszeiten neben Goethe erhält. Man hat genug an Bürger gerüttelt, er erweist sich als festgewurzelt. Goethes Erziehung und erstes Emporkommen hatte mit Göttingen nichts zu tun.”

 

1948

Pissin, Raimund. Vom Schicksal verfolgt. In: Berliner Hefte für geistiges Leben. 3.1 S. 73-79

"[S. 73] Kein Zweifel wiederum, daß die labile Lage seines ´Gemüts´, die Fülle widersprechender Züge seines Charakters den Schicksalsmächten mehr als bei hunderttausend anderen genügend Handhaben anzupacken bot; er war eine Mischung aus Leichtsinn und Hypochondrie; er war von äußerst reizbarer Sinnlichkeit, der keine kühle Überlegung Zügel anlegte; er war, wie Cäsar einst die Gallier charakterisierte: novarum rerum cupidus (begierig nach Neuem, abenteuerlustig). Seine Begeisterung für Menschen, Dinge, Pläne loderte rasch auf und erlosch meist ebenso rasch; das mochte in der Wurzel mit seiner Trägheit zusammenhängen, einem Erbteil vom Vater - er nannte sich selbst ´eine faule Bestie´, Darum hat er so viele Bruchstücke hinterlassen.

[S. 74] Selten, daß der Dichter von seiner amtlichen Tätigkeit einmal Gewinn hatte; so entstand aus der Untersuchung gegen eine Kindesmörderin seine Ballade ´Des Pfarrers Tochter von Taubenhain´. Er gab sich den reizenden Eindrücken des Augenblicks mit ganzer Seele hin, das war die Voraussetzung seiner genial-volkstümlichen Poesie. Aber die Ausschließlichkeit, mit der er dem Augenblick lebte, gab dem Schicksalsdämon immer wieder Macht über ihn. Dabei war er, was sein poetisches Schaffen betraf, von brennendem Ehrgeiz erfüllt, sich wohl bewußt, daß er ´ ... glorreich eines Hauptes höher/ Als zehntausend Alltagsmenschen ragt. [...] Allzufrüh der pietistisch-frommen Fesseln ledig, verfällt der Temperamentvolle einem Lotterleben, zu dem der durch Lessings vernichtende Kritik berüchtigt gewordene Professor Klotz, der in übelstem Rufe steht, den Führer macht. Mit einem Skandal und einer Woche Karzer endet das dreijährige Hallesche ´Studium´.

[S. 76] Dorette ist knapp über siebzehn Jahre alt, er sterblich in sie verliebt. In seinem Gerichtsdorf Wöllmershausen wird der kleinen Familie - schon im Mai 1775 erschien das erste Töchterchen - ein Bauernhaus eingerichtet. Einsam, von aller Welt abgeschnitten, liegt das Dorf im Winter. Es ist ein neuer Streich der Dämonen, daß Gustchen, Dorettens sechzehnjährige Schwester, das junge Paar in die Einsamkeit begleitet. Dorette kränkelt, Gustchen erblüht immer voller. Bürger liebt Weib und Kind, aber Gustchen, die ´Molly´ seiner Gedichte, wird seine Herzallerliebste.

[S. 77] Er versucht es in Göttingen mit der akademischen Laufbahn, obgleich Goethe ihn schon - auf eine Anfrage drei Jahre zuvor - vor dem Parteigeist der Kollegen und den ´barbarischen Formen´ der Universität gewarnt hat. Außer Heyne, Lichtenberg, Kaestner setzt sich niemand für den unwillkommenen Eindringling, den Außenseiter, ein. Im ´empfindungskalten Göttingen´ ist er, der gefeierte Dichter, ein einsamer Fremdling. Mühsam erwirkt ihm Kaestner als Dekan die Erlaubnis, Vorlesungen zu halten. [...] Bürger hat Erich Raspes kurz zuvor erschienene englische Ausgabe dieser deutschen Lügenmärchen nicht nur ins Deutsche zurückübersetzt, sondern um ein gutes Drittel vermehrt, von Lichtenbergs Belesenheit und Witz unterstützt. Der trocken-humorvolle Vortrag, die ´Fassung´ ist sein Verdienst. Ihm verdanken wir dieses unvergängliche Volksbuch. Er hat damals weder seinen Namen als Bearbeiter genannt noch ein Honorar erhalten. Verdienstvoll, aber wieder ohne Verdienst ist ein Jahr später seine unentgeltliche Vorlesung über ´Einige Hauptmomente der Kantischen Philosophie´. Er ist nicht nur in Göttingen der erste, sondern überhaupt in Deutschland einer der ersten, der für die kritische Philosophie eintritt. Es ist eine seiner besten und besuchtesten Vorlesungen.

[S. 79] Und nun stellt ein Anonymus in der ´Jenaischen Allgemeinen Literatur-Zeitung´ - ´mit kalter abgezirkelter Eleganz´, sagt der junge A. W. Schlegel, den Bürger in derselben Vorrede zu seinem Lieblingsjünger erklärt hat -, stellt in einer spaltenlangen Rezension seiner Gedichte fest: ´das erste Erfordernis für den Dichter sei Idealisierung seines Gegenstandes, ohne welche er aufhört, seinen Namen zu verdienen´. Das Volkstümliche an seinen Gedichten wird verworfen. Bürger will es nicht glauben, daß dieser hochmütige Anonymus, der vom hohen Olymp des Idealismus herab ein Strafgericht auf den Volksdichter prasseln läßt, der ihm den Rat erteilt, an seiner sittlichen Besserung zu arbeiten, Schiller sei, derselbe Schiller, der einst unter Bürgers Einfluß als Naturalist begann; derselbe Schiller, dem er seine Gedichte mit den Worten übersandt hat: ,´... dem Manne, der meiner Seele neue Flügel und einen kühnen Taumel schafft.´
  ´Wie kann man so von Gott und sich selbst verlassen werden, allen seinen eigenen sowohl geborenen als ungeborenen Kindern Rattenpulver zu legen ?´ - So wenig die Rezension Bürgers Dichterruhm hat erdrosseln können, so schwer hat sie des Mannes Selbstbewußtsein getroffen, der sich mit Epigrammen und polemischen Gedichten zur Wehr setzte."

 

1948

Der Bauer in Das Volk 30.6.1948


"Der Bauer
An seinen durchlauchtigen
Tyrannen
Von Gottfried August Bürger
Wer bist du, Fürst, daß ohne Scheu
Zerrollen mich dein Wagenrad,
Zerschlagen darf dein Roß?

Wer bist du, Fürst, daß in mein Fleisch
Dein Freund, der Jagdhund, ungebläut
Darf Klau’ und Rachen hau’n?

Wer bist du, daß durch Saat und Forst,
Das Hurra deiner Jagd mich treibt,
Entatmet wie das Wild?

Die Saat, so deine Jagd zertritt,
Was Roß und Hund und du verschlingst,
Das Brot, du Fürst, ist mein.

Du Fürst hast nicht, bei Egg’ und Pflug,
Hast nicht den Erntetag durchschwitzt.
Mein, mein ist Fleiß und Brot! —

Ha, du wärst Obrigkeit von Gott?
Gott spendet Segen aus; du raubst!
Du nicht von Gott, Tyrann!

Das Gedicht von Gottfried August Bürger (1747—1794) entnehmen wir der sehr guten Zusammenstellung deutscher Freiheitsgedichte, die Karlheinz Schellenberg unter dem Titel 'Die eiserne Lerche' im W. Ehglücksfurtner-Verlag, Mainz, herausgegeben hat. Sie enthält eine sehr gute Auswahl deutscher revolutionärer Lyrik. Das kleine Büchlein wird vor allem auch bei kulturellen Veranstaltungen sehr nützliche Dienste leisten können."

 

1948

Jakob Wassermann von Prof. Dr. Emil Kast in Badische neueste Nachrichten 20.3.1948


"[S. 3] Auch des Musikerromans 'Das Gänsemännchen', stofflich angeregt durch die Eheschicksale des Stürmers und Drängers Gottfried August Bürger, indessen völlig ins beginnende 20. Jahrhundert verlegt, und auch sonst vielfältig, oder eigentlich völlig transponiert, gilt es sich erneut zu vergewissern."
 

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21112023-118